Eigentlich ist es wie immer: Mit dem neuen Kulttrainer Tite und Superstar Neymar ist Brasiliens Selecao auch in Russland Titelkandidat. Das Ego wurde dank des phänomenalen Schlussspurts in der südamerikanischen WM-Qualifikation kräftig aufpoliert. Vergessen der Holperstart in die Eliminatorias. Abgehakt das 1:7-Trauma gegen Deutschland.
"Bei meinem Amtsantritt war der Druck ein komplett anderer: Brasilien irgendwie zur WM zu bringen", erinnert Tite, der am 20. Juni 2016 Dunga nach dem blamablen Vorrunden-Aus bei der Copa America ablöste. Da stand der Rekord-WM-Champion in der Qualifikation mit nur zwei Siegen aus sechs Spielen auf Rang sechs, drohte die Zuschauerrolle in Russland, galt der Neuanfang nach der Heim-WM als gescheitert.
Der 57-Jährige legte jedoch den Schalter um. Es folgte der Quali-Durchmarsch mit zehn Siegen und zwei Unentschieden. Der Erfolgscoach ist als Motivator und für das Zusammenschweißen einer Gruppe bekannt. Fähigkeiten, mit denen er schon den SC Corinthians 2012 zum Libertadores-Cup-Champion und Klub-Weltmeister formte.
- Der Star: Neymar
Zweimal bei der Wahl zum Weltfußballer auf dem Treppchen, will Neymar der Dekade von Cristiano Ronaldo und Lionel Messi endlich ein Ende setzen. Der Masterplan dazu war der 222 Millionen Euro teure Rollenwechsel vom Komparsen in Barcelona zum Showman von Paris Saint-Germain. Doch nach seinem Mittelfußbruch und dem Champions-League-Aus von PSG steht der 26-Jährige in der Bringschuld. Rechtzeitig vor der WM meldete sich der Ausnahmekönner wieder zurück.
Vor vier Jahren trug er Brasilien bis ins WM-Halbfinale, war dann jedoch nach einem Wirbelanbruch machtlos. Die 1:7-Demütigung gegen Deutschland versinnbildlichte die Neymar-Abhängigkeit. Beides wurde jüngst beim 1:0 in Berlin ein wenig relativiert.
Doch Neymar junior ist nicht nur Finten, Pässe und Tore. Sein Namenskürzel "NJR" ist Markenlabel, sein Leben stellt er in seinem Instagram zur Schau. Fotos beim Spielen mit dem unehelichen Sohn David Lucca (6), das Aus und An seiner Beziehung zum Schauspielsternchen Bruna Marquezine, die Pokerpartien mit den Kumpels. Sein sportliches Talent ist unzweifelhaft, sein Ego äquivalent unermesslich.
>>> der WM-Kader Brasiliens in der Übersicht
- Der Trainer: Tite
Für die Fußballszene außerhalb Brasiliens kam er (fast) aus dem Nichts. Adenor Leonardo Bacchi, den in den 1970er-Jahren kein Geringerer als sein damaliger Trainer Luiz Felipe Scolari in Verwechslung mit einem anderen Jungen irrtümlich und fortan für alle Zeit Tite nannte, wurde am 20. Juni 2016 als "Salvador" der Selecao auserkoren und rettet seitdem Prestige und "jogo bonito".
Der stets im Maßanzug auftretende 57-Jährige führte Corinthians, einen Klub der Massen aus Sao Paulo, 2012 zum langersehnten Libertadores-Cup-Titel und gewann auch das Klub-WM-Finale. Und das mit einer Defensivtaktik, die er aber in seinem Sabbatjahr 2014 zugunsten einer offensiveren Ausrichtung über den Haufen warf, die sich bei seiner Rückkehr zu Corinthians 2015 mit dem Meistertitel dank des besten Angriffs und der besten Abwehr auszahlte.
Tite, dessen Sohn Matheus im Selecao-Trainerstab die Spiel(er)-Daten auswertet, hätte bei den Wahlen im Oktober laut Umfragen gar Chancen auf den Präsidenten-Posten im krisengeschüttelten Brasilien. Erst recht, wenn er am 15. Juli das WM-Finale gewinnen würde.
- Die Prognose
Dass Brasilien als Titelfavorit zu einer WM-Endrunde fährt, hat fast schon Tradition. Nach der Schmach im eigenen Land brennt der Rekordweltmeister in Russland auf Wiedergutmachung. Die Gruppengegner Costa Rica, Serbien und Schweiz sollten nur ein leichter Aufgalopp für das sein, was im weiteren Turnierverlauf wartet.
Im Viertelfinale könnte es zu einem Duell mit Belgien oder England kommen. Erst dann wird die Selecao zeigen müssen, was wirklich in ihr steckt.
Die Offensive um Neymar, Gabriel Jesus und Coutinho ist mit das Beste, das der Weltfußball zu bieten hat. Sollte sie das Team am Ende zum Titel tragen, würde sich niemand wundern.












