Die Washington Commanders spielen eine fantastische Saison. Gehörte man im vergangenen Jahr noch zum sportlichen Bodensatz der NFL, hält das Team nun mit der Spitze mit. Dass nun beim ein oder anderen erste Titelträume aufkommen, ist verständlich. Doch sind diese Ambitionen berechtigt oder noch verfrüht?
sport.de blickt in die Hauptstadt und beleuchtet, ob die Commanders wirklich Hoffnungen auf Großes hegen dürfen oder ob dieser Schritt vielleicht doch etwas zu früh kommt.
Jede Menge neues Personal
Rund eineinhalb Jahre ist es her, dass bei den Washington Commanders eine neue Zeitrechnung begann. Im Juli 2023 stimmte die NFL dem Verkauf an eine Eigentümergruppe um Josh Harris zu. Unter dem neuen Besitzer startete langsam, aber sicher der Umbruch.
Sportliche Früchte trug dieser allerdings nicht, weshalb man auf vielen entscheidenden Positionen einen Wechsel für 2024 vollzog. So holten die Commanders beispielsweise Dan Quinn als Head. Quinn hatte vor knapp zehn Jahren in Seattle die "Legion of Boom" aufgebaut und war 2016 mit dem Falcons in den Super Bowl eingezogen. Zuletzt war er als Defensive Coordinator bei den Dallas Cowboys im Einsatz. Der Hauptübungsleiter gilt als beliebt, ist ein klassischer Players Coach mit einer starken Verbindung zu seinem Team.
Unterstützt wird er unter anderem von Kliff Kingsbury, den die Commanders als Offensive Coordinator holten. Nach grandiosen Leistungen am College wurde er vor einigen Jahren zum Head Coach der Arizona Cardinals ernannt, wusste als solcher aber nicht zu überzeugen. Nun ist er zurück in der NFL und eine große Hilfe für das Team.
Und dann ist da ja noch Jayden Daniels, den die Commanders mit dem zweiten Pick des NFL Draft in die Hauptstadt lotsten. Der frühere LSU-Quarterback besticht durch konstante Leistungen und erwies sich als echter Glücksgriff.
Rund um ihren Rookie baute man in Washington eine kernsanierte Offensive Line, die Daniels deutlich besser schützt als seine Vorgänger. So holten die Commanders die beiden Veteranen Tyler Biadasz und Nick Allegretti und besserten zudem im Draft unter anderem mit dem Deutsch-Amerikaner Brandon Coleman nach.

Urplötzlich ein Contender?
Und die Neuzugänge erwiesen sich überwiegend als Volltreffer, vor allem in der Offensive. Jayden Daniels hat nach der Hälfte der Saison gefühlt schon den Titel als "Rookie of The Year" sicher, sollte er sich nicht zeitnah verletzen.
Die helfenden Hände für diese Leistungen sind bereits genannt. Natürlich zählt hier die angesprochene Offensive Line dazu. Die neuformierte Line belegt bei "PFF" beispielsweise in Sachen Pass Blocking mit einer Wertung von 73,2 den neunten Platz in der Liga.
Und wenn die Line mal nicht zur Stelle ist, dann hat Jayden Daniels ja noch ziemlich flinke Beine. 459 Yards und vier Touchdowns legte der Quarterback bereits zu Fuß auf.
Dass die Offense der Commanders, gerade im Passspiel, so ins Rollen kommt und von "PFF" als drittbeste Passing Offense gesehen wird, hat auch mit Kliff Kingsbury zu tun.
Der Offensive Coordinator hat es geschafft, eine Offense zu implementieren, die Daniels den Einstieg in die NFL leicht gemacht hat. Kingsbury gab seinem QB vor allem in der Anfangsphase der Saison sehr leichte Reads.
"Das Beste an Kliffs Offense ist, dass er es dem Quarterback wirklich leicht macht", bestätigte Zach Ertz schon vor der Saison. Der Tight End hatte einst auch in Arizona unter Kingsbury gespielt.
Zudem ist die Offense sehr gut auf den jeweiligen Gegner vorbereitet. Woran das liegt, erläuterte Running Back Austin Ekeler: "Es sind so viele Walk-Throughs, wie ich sie noch nie gemacht habe", sagte Ekeler. "Wir haben so viele mentale Wiederholungen. Die Leute stehen an verschiedenen Stellen und sind sehr schnell, so dass wir als Offense eine Vielzahl von Möglichkeiten haben, um sicherzustellen, dass alles richtig läuft."
Das Ergebnis lässt sich sehen. Die Commanders haben mit 263 Punkten die zweitmeisten in der NFL. Mit so viel Offensive Power ist man doch sicher ein Contender - oder?
"Defense wins Championships"
Dafür müssten die Commanders allerdings den Uralt-Spruch "Defense wins Championship" aushebeln. Denn in Sachen Defense sind sie noch weit von der Spitze entfernt.
In Sachen zugelassener Punkte liegt man mit Platz 20 zwar absolut im Rahmen, das muss man allerdings auch der offensiven Feuerpower zuschreiben. Schließlich hat man dadurch zum einen in mehr als der Hälfte der Spielzeit den Ball, zum anderen müssen die gegnerischen Teams häufig das Risiko erhöhen, um mit der Commanders-Offense mitzuhalten.
Aber: "PFF" bewertet die Commanders-Defense mit einem Rating von 59,4. Nur die Saints, Cowboys und Panthers sind schlechter.
Und gerade, wenn es in Richtung Januar und mögliche Playoff-Spiele gegen Offensiv-Reihen wie die Lions geht, könnte den Commanders mit dieser Defense Ungemach drohen.
Der Lattimore-Trade
Um das auszugleichen, rüstete man unter der Woche prominent nach und eiste Cornerback Marshon Lattimore aus New Orleans los. Für den Passverteidiger blätterten die Commanders einen Drittrundenpick und einen Sechstrundenpick hin. Zudem tauschen die Teams einen Viertrundenpick (von den Commanders) und einen Fünftrundenpick (Saints).
Ein stolzer Preis für einen Cornerback, der zwar seit Jahren gut spielt, mittlerweile aber nicht mehr zur Top-Klasse auf seiner Position gehört. Zudem plagten ihn in der Vergangenheit immer wieder kleinere Verletzungen.
Weil ihm die Saints aufgrund einer Vertragsumstrukturierung bereits einen Großteil seines Geldes für diese Saison auszahlten, kommt Lattimore allerdings zum Gehalts-Minimum.
Das gilt jedoch nur für diese Saison. Im nächsten Jahr müsste man vermutlich an den Vertrag (jeweils 18 Mio. Dollar Base Salary für 2025 und 2026) ran, um Cap zu sparen. Oder man entlässt Lattimore wieder, das wäre laut "OverTheCap" ohne Dead Money möglich.
Allerdings würde das den gezahlten Preis in Form von Draft Picks überhaupt nicht rechtfertigen.
Ein Blick in die Zukunft
Ohnehin deutet der Trade für Marshon Lattimore schon jetzt eines an: Die Washington Commanders sehen sich schon in dieser Saison im Titel-Fenster.
Eine solche Investition von Draft Picks für einen Trade, in dem man diverse Teams ausstach, heißt sicherlich nicht, dass man sich noch im Rebuild sieht.
Und natürlich - mit einer solchen Offense und einem Top-Quarterback auf seinem Rookie-Vertrag kommt man ins Träumen. Die Zeit ist begrenzt, irgendwann wird Jayden Daniels einen fetten Vertrag bekommen, wenn er auch nur annähernd so weiterspielt.
Doch bis dahin sind es noch einige Jahre. Wie schon angedeutet: Die Washington Commanders begeistern durch ihre Offense, dass es allerdings für den ganz großen Wurf reicht, ist ob der starken Konkurrenz allein in der NFC aus Detroit, San Francisco, Green Bay und Co. dann doch eher unwahrscheinlich. Denn in den Playoff-Spielen wird man mit dieser Defense einen schweren Stand haben, daran ändert auch Marshon Lattimore nichts.
Vielleicht wäre es also schlauer gewesen, sich ein Jahr mehr Zeit zu lassen und mit viel Draft-Kapital und Cap Space (laut "OverTheCap" über 100 Mio. Dollar) den Kader weiter zu verbessern.
Aber wer will es den Commanders nach etlichen Jahren der Pleiten und Enttäuschungen verdenken? Träumen muss erlaubt bleiben, auch wenn es mutmaßlich nicht die nachhaltigsten Träume sind.



































