Die Geschichte einer NFL-Saison wird maßgeblich auf der offensiven Seite des Balls erzählt. Einige Teams sind sichere Kandidaten, um Jahr für Jahr einen Platz in der Top 10 zu beanspruchen. Doch welche Teams, die letztes Jahr noch nicht oben mitspielen konnten, sind bereit für den Sprung in die Liga-Spitze?
In seiner monatlichen Kolumne schreibt RTL-Experte Adrian Franke exklusiv bei sport.de über die NFL
Verschiedene Statistiken und verschiedene Analysen führen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Manche beziehen mehr Kontext ein, andere fokussieren sich auf andere Dinge - und eine allumfassende Statistik gibt es ohnehin nicht. Doch geht man nach Expected Points Added pro Play, ist die Liste der zehn besten Offenses der vergangenen Saison sehr nah dran an dem, wie ich die Offensivabteilungen der NFL 2023 selbst einsortieren würde.
San Francisco, Dallas, Buffalo, Green Bay, Miami, Detroit, Baltimore, die Rams, Philadelphia, und auf dem zehnten Platz die Chiefs und die Seahawks gleichauf. Das gibt den Eindruck der vergangenen Saison sehr treffend wieder: Die Niners und Dolphins pflügten phasenweise fast unaufhaltsam durch die Liga, Dallas war in der Regular Season bis auf zwei, drei Ausrutscher exzellent. Die Packers waren herausragend in der zweiten Saisonhälfte, die Bills kamen dank Josh Allen und der Offense noch in die Playoffs, die Ravens wurden in ihrem neuen Scheme vom MVP Lamar Jackson angeführt, und so weiter.
Offenses sind dabei von Jahr zu Jahr stabiler als Defenses. Wo es auf der defensiven Seite des Balls signifikant mehr Fluktuation gibt, lassen sich produktive Offenses meist durch die Qualität des Quarterbacks und des Play-Callers vergleichsweise stabil prognostizieren. Von den elf "Top-10-Teams" letztes Jahr waren sieben auch 2022 bereits in der Top 10: Die Chiefs, die Eagles, die Bills, die 49ers, die Lions, die Cowboys und die Dolphins.
Ein paar Auf- und Absteiger gibt es aber auch hier immer. Die Ravens und ganz besonders die Rams verbesserten sich im Vergleich zu 2022 enorm, beide hatten 2022 mit Quarterback- (und anderen) Verletzungen zu kämpfen. Beide bekamen 2023 Elite-Quarterback-Play und fanden zusätzlich signifikante Upgrades: Die Ravens schematischer Natur sowie durch eine verbesserte Receiver-Gruppe, bei den Rams wären hier Puka Nacua und eine stärkere Offensive Line zu nennen.
Welche Offense klettert 2024 in die Top 10?
Ein Team passt auffallend gut in diese Beschreibung: Die Cincinnati Bengals. Die Bengals hatten 2022 nach EPA pro Play die viertbeste Offense in der NFL - als Joe Burrow die ganze Saison bestritt und herausragende Zahlen auflegte. Letztes Jahr verpasste er weite Teile verletzt, oder spielte merklich angeschlagen.
Cincinnati hat in dieser Offseason in seine Offensive Line investiert, sowohl kurzfristig (Trent Brown), als auch langfristig (Erstrunden-Pick Amarius Mims). Mike Gesicki und Rookie Jermaine Burton geben Cincinnati neue Waffen, unter anderem, um den Abgang von Tyler Boyd aufzufangen. Und: Quarterbacks-Coach Dan Pitcher wurde zum Offensive Coordinator befördert, nachdem Brian Callahan als neuer Head Coach die Tennessee Titans übernommen hatte. Bleibt Burrow fit, sollte Cincinnati wieder in die Top 10 klettern.
Doch wer kommt ansonsten in Frage? Vielleicht eine eher gewagte Prognose, aber mitnichten auszuschließen, sind die Atlanta Falcons. Atlanta hatte letztes Jahr eine der schlechtesten Offenses in der NFL (Platz 27 nach EPA pro Play, Platz 20 nach Success Rate), deshalb gab es den Neustart. Kirk Cousins ist ein massives Upgrade, Darnell Mooney und Rondale Moore bieten mehr Receiver-Tiefe und die Offensive Line ist immer noch eine der acht bis zehn besten in der NFL.
Mit Zac Robinson ist der neue offensive Play-Caller ein größeres Fragezeichen, aber zumindest sollte Cousins mit seinem Sean-McVay-nahen-Scheme einigermaßen schnell vertraut sein. Wenn hier die Rädchen schnell ineinandergreifen, könnte Atlanta zumindest an der Top 10 schnuppern.
Top-10-Offenses: Sind die Texans bereit?
Vermutlich kein Team umgibt derzeit mehr Hype als die Houston Texans. Mit der großartigen Rookie-Saison von C.J. Stroud, sowie den Breakouts von Nico Collins und Tank Dell legten die Texans den Grundstein nicht nur für eine märchenhafte erste Saison des neuen Regimes. Es war auch der Grundstein für eine aggressive Offseason, in der offensiv unter anderem mit Stefon Diggs und Joe Mixon nachgelegt wurde.
Der Hype rund um die Texans war schon während der vergangenen Saison groß, berechtigterweise. Doch dass statistisch nicht noch mehr drin war, und die Offense sich im Ligavergleich eher im oberen Mittelfeld bewegte, lag daran, dass die Offensive Line den Vorschusslorbeeren nicht gerecht wurde. Sie sollte eigentlich der Stabilisator für eine junge Texans-Offense sein, stattdessen aber wurde hier mehrfach rotiert, und außerhalb von Laremy Tunsil suchte man echte Säulen vergeblich. Das machte sich auch im Run Game sehr deutlich bemerkbar.
Falls Houston hier mehr Stabilität rein bekommt, womöglich mit Zweitrunden-Rookie Blake Fisher direkt in einer größeren Rolle, während Stroud sich weiter entwickelt und das jetzt noch mit Stefon Diggs in seinem Waffenarsenal? Dann wäre Houston neben Cincinnati der wahrscheinlichste Pick für einen Sprung in die Top 10.
Die Außenseiter-Picks: Wer überrascht?
Da, wie eingangs erwähnt, Offenses einfacher in der Prognose sind als Defenses, gibt es dementsprechend auch weniger echte Überraschungen. Mit Blick auf die statistischen Top-10-Offenses letztes Jahr wäre Seattle am ehesten ein Kandidat, oder, wenn man es auf die Top 12 erweitert, die Tampa Bay Buccaneers.
Zwei solcher Außenseiter-Pick-Kandidaten habe ich hier noch auf dem Zettel, beide erfüllen zumindest in Teilen einige der genannten auffälligen Kriterien. Denn beide mussten weite Teile der vergangenen Saison ohne ihre Quarterbacks auskommen: Die Indianapolis Colts und die Arizona Cardinals.
Kyler Murray absolvierte in der neuen Offense von Drew Petzing immerhin acht Spiele, nachdem er von seinem Kreuzbandriss zurückgekehrt war. In der Zeit - also ab Woche 10 bis Saisonende - waren die Cardinals auf Platz 9 in EPA pro Play und auf Platz 12 in Success Rate. Nah dran also bereits für eine Offense, die jetzt erst ihren Nummer-1-Receiver bekommt: Marvin Harrison kommt mit großen Vorschusslorbeeren in die NFL und könnte als Rookie dabei helfen, Arizonas Offense auf ein neues Level zu heben. Im Run Game war Arizona bereits letztes Jahr eines der gefährlichsten Teams ligaweit.
Bei den Colts stellte Head Coach Shane Steichen seine Fähigkeiten eindrucksvoll unter Beweis, indem er mit Gardner Minshew eine konkurrenzfähige Offense auf den Rasen brachte. Jetzt kehrt Anthony Richardson zurück, und mit Rookie-Receiver Adonai Mitchell könnte das Waffenarsenal ein fehlendes Puzzleteil erhalten: Ein gefährlicher Route Runner, der als vertikaler Receiver gewinnen kann.
Die Offensive Line legte bereits letztes Jahr einen deutlichen Sprung hin, verglichen mit der enttäuschenden 2022er Saison. Für die Colts geht es in erster Linie darum, gesund zu bleiben. Und wenn dann Richardson sein enormes Potenzial abrufen und sich weiter steigern kann, ist die Top 10 vielleicht schon in der kommenden Saison in Reichweite.
Adrian Franke



































