Fußball ist in der Türkei eine Art Ersatzreligion. Die Inbrunst der Fans kann beflügeln - oder lähmen.
Lukas Podolski sollte vor einigen Tagen im Trainingsquartier der deutschen Nationalmannschaft seine fußballerische Renaissance erklären. Er treffe ja inzwischen sogar mit dem Kopf, stellte ein Reporter verwundert fest. "Ja", meinte Podolski in der ihm eigenen, verschmitzten Art, das komme von "türkischer Luft und türkischem Essen". Die heißblütigen Fans täten ihr Übriges.
Nun, während das Essen in Podolskis Wahlheimat Istanbul über jeden Zweifel erhaben ist, lässt sich über die Luft in der Millionen-Metropole streiten. Und die Fans? Sie können einen Fußballer beflügeln, wie das bei Galatasaray-Stürmer Podolski offenbar der Fall ist. Oder lähmen. Wer wüsste das besser als die Akteure der türkischen Nationalmannschaft, die am Sonntag (15:00 Uhr) im Pariser Prinzenpark gegen Kroatien in die EM starten.
"Drama, baby!" Wenn es in der Türkei um Fußball geht, ist immer alles übertrieben. Siege sind nicht einfach Erfolge, nein, mindestens Triumphe und Vorboten der fußballerischen Weltherrschaft. Eine Niederlage wird nie einfach nur hingenommen, sie ist Pleite, Schmach und persönliche Beleidigung. Nach einem 0:3 in einem der vielen Istanbuler Stadtderbys meiden Erwachsene schon mal den Gang zur Arbeit, und Schulkinder bleiben zu Hause, um sich nicht beißendem Spott auszuliefern.
TV-Reporter wie Ultras in der Kurve
Dieses Schwarz-Weiß-Denken überträgt sich allzu oft auf die "Ay-Yildizlilar", die "Halbmond-Sterne" in den roten Trikots. An guten Tagen spielen sich Arda Turan und Co. in einen Rausch. Wie ihre Vorgänger um Stürmerstar Hakan Sükür bei der WM 2002, als die Türken auf Platz drei stürmten. Oder wie 2008, als die Mannschaft im EM-Halbfinale gegen Deutschland nur knapp an einer Sensation vorbeischrammte.
Die TV-Kommentatoren fiebern dann mit wie Ultras in der Kurve. Da gibt es ein "Bravo", wenn ein Pass gelingt oder eine Grätsche sitzt. An schlechten Tagen werden die Stars von den hohen Erwartungen erdrückt. Sie spielen taktisch undiszipliniert, oder ergeben sich ihrem Schicksal. Im Fernsehen wird dann bisweilen minutenlang geschwiegen.
Europameister - oder Untergang!
Es ist aber auch schwer. Stolz, Ehre, Patriotismus - die Nationalmannschaft kommt nicht zum Fußballspielen zu einem großen Turnier, sie ist auf einer nationalen Mission. Trainer Fatih Terim, passend zu seinem Führungsstil "Imperator" genannt, und mit 13 Titeln erfolgreichster türkischer Coach überhaupt, meint: "Die Erwartungen sind immer hoch, wenn es um meine Person geht, aber ich bin daran gewöhnt - und habe sie noch stets erfüllt."
Nichts anderes gedenkt der 62-Jährige, der die Türken bereits zum dritten Mal betreut (1993 bis 1996, 2005 bis 2009, seit 2013), in Frankreich zu tun. Wenn erst mal die Vorrunde überstanden sei, könne es noch "viel weiter" gehen, sagte er. Nur mal so: Die Türkei hat seit 2008 kein großes Turnier mehr gespielt. Aber egal. Auch in Frankreich lautet das Motto: Europameister - oder Untergang!









