Nicht wenige vermuteten, dass Johannes Thingnes Bö nach den Olympischen Winterspielen 2026 in Mailand Skier und Waffe an den Nagel hängen würde, zumal der Biathlon-Dominator aus Norwegen stets betonte, nicht ewig seine Runde drehen zu wollen. Das Ende seiner formidablen Karriere läutete der 31-Jährige dann allerdings schon im Januar 2025 ein. Nicht auf olympischer Bühne in Italien, sondern vor heimischer Kulisse am legendären Holmenkollen in Oslo gibt Bö an diesem Wochenende (ab 21. März) sein letztes Hurra.
Damit ist auch klar, dass der ewige Rekord von 94 Einzelsiegen, den Biathlon-Lichtgestalt Ole Einar Björndalen aufstellte, nicht wackeln wird. Das wirft eine Frage auf: Ist Johannes Thingnes Bö dennoch der größte Skijäger aller Zeiten? In der sport.de-Redaktion existieren unterschiedliche Meinungen.
Marc Affeldt: Johannes Thingnes Bö ist der G.O.A.T.
Ein Blick auf die reinen Zahlen untermauert ein Kopf-an-Kopf-Rennen: Johannes Thingnes Bö gewann in seiner Laufbahn 43 WM- (23 Gold, 14 Silber, 6 Bronze) und acht Olympia-Medaillen (5 Gold, 2 Silber, 1 Bronze), fünfmal den Gesamtweltcup (Nummer sechs könnte noch folgen) und 117 Rennen (79 Einzelrennen) im Rahmen des Weltcups. Ole Einar Björndalens Vita weist 45 WM- (20 Gold, 14 Silber, 11 Bronze), 13 Olympia-Medaillen (8 Gold, 4 Silber, 1 Bronze) sowie sechsmal den Gewinn des Gesamtweltcups und den Rekord von 135 Weltcupsiegen (94 Einzelsiege) auf.
Alles in allem hat der "Kannibale", der von 1992 bis 2018 sein Unwesen im Biathlon-Weltcup trieb, die Nase also leicht vorne, es gibt allerdings ein fettes ABER: Bö beendet seine Laufbahn nach nur zwölf Jahren, nahm nur an zwei Olympischen Spielen teil und kann Björndalens einst als unerreichbar geltenden Erfolgen dennoch die Stirn bieten.
Außerdem darf man eine Regeländerung zu Ungunsten Bös eigentlich nicht außer Acht lassen. Seit dem Winter 2021/22 zählen WM- und Olympiasiege nicht mehr zeitgleich als Erfolge im Weltcup - ohne Änderung stünde Bö sogar schon bei 85 Einzelsiegen und würde noch enger an Björndalen heranrücken.
Bricht man die Erfolge auf die Zeit herunter, in der diese erreicht wurden, kann es eigentlich nur eine Antwort geben: Johannes Thingnes Bö ist der G.O.A.T.
Letztlich gelten allerdings wohl nur die Worte von einem, der es schlicht und einfach wissen muss: "Er ist tatsächlich der beste Biathlet aller Zeiten. Er ist ein fantastischer Athlet. Wenn er im Flow ist, kann ihn niemand aufhalten", adelte Björndalen Bö im Dezember 2024 beim norwegischen TV-Sender "TV2" - wer will da widersprechen?
Mats-Yannick Roth: Björndalen ist der Biathlon-Pionier
Der Widerspruch kommt hier! Zunächst einmal ehrt es Ole Einar Björndalen, der mit sagenhaften 40 Jahren noch Olympisches Gold im Sprint- und Mixed-Staffel-Rennen gewann, sein eigenes Licht derart unter den viel zitierten Scheffel zu stellen.
Sich selbst als Größten aller Zeiten zu bezeichnen, passt nicht zum Charakter des heute 51-Jährigen, der im Biathlon-Stadion zwar Kannibale genannt wurde, sich öffentlich aber stets als bescheidener Sportsmann verhalten hatte.
In seiner absoluten Hochphase in den 2000er-Jahren hatte Björndalen für den Biathlon-Sport eine viel größere Bedeutung, als nur die sportliche Nummer eins zu sein. Der Norweger gehörte nicht nur in seiner Heimat, sondern auch in vielen weiteren Ländern zu den populärsten Wintersportlern überhaupt, stand auch hierzulande für viele stellvertretend für eine ganze Sportart.
Björndalen war für die damaligen Verhältnisse extrem im Fokus des öffentlichen Interesses, war der erste echte Superstar unter den Skijägern. Er leistete damit Pionierarbeit, von der folgende Top-Athleten wie Emil Hegle Svendsen, Martin Fourcade und selbst Johannes Thingnes Bö nur profitieren konnten.
Einmalig war zudem auch die unerreichte Besessenheit des Ole Einar Björndalen. Mit 44 Jahren lief er noch immer im Biathlon-Weltcup mit, reizte seine eigene Belastbarkeit bis zum aller letzten Weltcup-Rennen als Mittvierziger bis aufs Äußerste aus. Nie zuvor und danach hat ein Weltklasse-Biathlet so lange auf Spitzenniveau performt.
Der siebenmalige Gesamtweltcup-Sieger Martin Fourcade hatte mit 31 Jahren genug von Loipe und Schießstand, im gleichen Alter hört nun auch Johannes Thingnes Bö auf.
Wer hingegen derart beharrlich und langanhaltend wie Björndalen - nämlich über 20 Jahre lang - die Geschehnisse einer gesamten Sportart in erster Reihe mit bestimmt, darf sich getrost als der Größte aller Zeiten feiern lassen.