Denise Herrmann-Wick zählt zu den erfolgreichsten deutschen Biathletinnen des letzten Jahrzehnts. 2022 wurde sie in Peking Einzel-Olympiasiegerin, 2023 folgten zum Karriereende noch einmal drei WM-Medaillen (einmal Gold, zweimal Silber) in Oberhof. Im ersten Teil des großen sport.de-Interviews spricht die 36-Jährige exklusiv über die kommende Biathlon-WM in Lenzerheide (vom 12. bis 23. Februar), die Chancen der deutschen Stars und den Rücktritt von Superstar Johannes Thingnes Bø.
Frau Herrmann-Wick, mit den Eindrücken der letzten Wochen im Biathlon: Mit welcher Erwartungshaltung blicken Sie dem bevorstehenden Saisonhöhepunkt in Lenzerheide entgegen?
Denise Herrmann-Wick: Mit einer sehr positiven. Gerade bei den Frauen können wir speziell mit Franziska Preuß und Selina Grotian sehr optimistisch auf die Einzelrennen blicken. Franzi ist in allen Rennen eine Medaillenkandidatin, es kann eine ganz gute WM werden.
Klar, bei den Männern hat es in diesem Winter für ganz vorne noch nicht gereicht. Trotzdem haben wir da auch viel Potenzial im Team, in Lenzerheide lief es im letzten Jahr auch richtig gut für unsere Männer mit vier Läufern unter den ersten Sechs im Sprintrennen. Daran sieht man, dass die Strecke den DSV-Männern grundsätzlich liegt. Hoffentlich können sie bei der WM die letzten Wettkämpfe hinter sich lassen und da dann wieder performen. Drauf haben sie das auf alle Fälle!
Die deutschen Biathlon-Männer kamen in der gesamten Weltcup-Saison nicht richtig in Tritt, zwei magere Podestplätze in der gesamten Saison sprechen eine deutliche Sprache. Was sind die Gründe dafür, dass es für die absolute Weltspitze noch nicht reicht?
Bei den Männern ist die Konkurrenz sehr dicht und das Feld einfach sehr stark, da hat der Ausreißer nach ganz oben bisher noch gefehlt. Da muss schon alles super gut passen und man muss auch auf den einen oder anderen Fehler bei der Konkurrenz hoffen. Vor allem im norwegischen Team ist das bei den Männern noch mal etwas anderes als bei den Frauen. Da ist auch die zweite Reihe sofort für Top-Platzierungen gut. Bei der WM werden die Karten aber immer neu gemischt.
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Bei den Norwegern haben vor allem die Brüder Johannes Thingnes und Tarjei Bø mit ihrer Rücktrittsankündigung für große Schlagzeilen gesorgt. Wird es in Lenzerheide jetzt noch einmal die letzten großen Bø-Festspiele geben?
Die beiden sind Ikonen ihrer Sportart, sie werden ihr Ding mit Sicherheit wieder machen! Ich kenne es ja selber von meiner letzten WM in Oberhof: Das ist auch emotional eine richtig große Sache. Da kann man noch einmal über sich hinauswachsen, zumal die beiden Bös in mittleren Höhenlagen immer richtig fit sind. Auch wenn Johannes vielleicht nicht mehr so souverän unterwegs war wie in anderen Jahren: Die Grundvoraussetzungen für Top-Leistungen sind sehr gut. Er muss es sich aber auch jedes Jahr wieder neu erarbeiten.
Könnte es im Zuge der Bø-Rücktritte noch zu einem weiteren Aderlass bei den Männern kommen? Ähnlich wie vor zwei Jahren bei Ihnen, als mit Ihnen auch noch weitere Top-Biathletinnen wie Marte Olsbu Röiseland oder Tiril Eckhoff aufhörten?
Dass nach Lenzerheide die große Rücktrittswelle stattfindet, glaube ich nicht. Immerhin geht es nächstes Jahr auch wieder Richtung Olympia. Da ist es schon untypisch, ein Jahr davor aufzuhören. Bei den Bös hatte es familiäre Gründe, ansonsten kann ich mir nicht vorstellen, dass noch viele die Segel streichen werden. 2023 haben bei den Frauen echt viele starke Läuferinnen aufgehört, gerade in Norwegen. Die fehlen den Norwegern jetzt gerade, sie sind ja im Damenfeld im Moment gefühlt nicht existent.
Franziska Preuß geht als Gesamtweltcup-Führende bei der WM in Lenzerheide an den Start. Wie blicken Sie auf ihren bisherigen Winter unter anderem mit zwei Weltcupsiegen und insgesamt zehn Podestplätzen?
Sie war in den Jahren zuvor ja immer wieder von Krankheiten geplagt gewesen und hatte ordentlich Rückschläge einstecken müssen. Jetzt bestreitet sie eine ihrer konstantesten Saisons. Sie wirkt sehr souverän und hat sich auch technisch noch einmal weiterentwickelt. Ich bin ab und zu noch mit ihr unterwegs und merke auch, dass sie die nötige Lockerheit hat. Dass sie gut Schießen kann und eine super Biathletin ist, war von Tag eins an eigentlich klar. Mittlerweile hat sie auch schon viele Erfahrungen mit Großereignissen gesammelt - nicht nur positive. Das macht sie zu einer großen Mitfavoritin. Erfahrung ist im Biathlon das A und O. Dazu kommt ihre Form, die sie den ganzen Winter über gezeigt hat, damit kann sie schon entspannt in Richtung Lenzerheide blicken.
Eine WM-Medaille oder gar einen WM-Titel trauen Sie ihr also auf jeden Fall zu?
Um ganz oben zu stehen, muss alles zusammenpassen, da muss auch die Konkurrenz ein bisschen mitspielen. Aber ich glaube schon fest daran, dass sie eine Medaille gewinnen kann. Beim Großereignis seine Bestform abzurufen und nochmal echte Spitzen zu setzen, ist immer das große Ziel von allen. Dafür wünsche ich ihr viel Glück.
Auch bei Selina Grotian zeigt die Leistungskurve in diesem Winter steil nach oben, nachdem sie im letzten Jahr noch deutliche Schwankungen gezeigt hatte und zum Teil nur im IBU-Cup unterwegs war. Was macht sie in diesem Winter besser?
In die Trainingsprozesse habe ich jetzt nicht den großen Einblick. Aber da muss sehr viel richtig gelaufen sein. Sie ist sehr talentiert, steht super auf Skiern und läuft technisch von der jungen Garde mit Abstand am besten. Sie ist auch vom Mindset her richtig gut aufgestellt, gerade für eine Biathletin. Sie ist sehr zurückhaltend, weiß aber trotzdem genau, was sie kann und vielleicht noch nicht kann. Daran arbeitet sie akribisch und das ist vielleicht auch der Schlüssel zum Erfolg.
Auffällig ist bei den Frauen aber auch, dass mit Ausnahme von Franziska Preuß keine deutsche Biathletin zu den besten Läuferinnen im Feld gehört. Woran liegt das, dass es bei den Laufzeiten schon länger nicht mehr für ganz vorne reicht?
Es ist ein Bild, welches sich schon jahrelang widerspiegelt. Es sind ein paar dabei, die ganz gut laufen können, danach gibt es dann schon einen größeren Abstand, das stimmt. Im deutschen Team ist da gerade schon eine große Diskrepanz. Man sieht ja auch, dass sich mit Ach und Krach noch die letzte Reservefrau (Johanna Puff, Anm. d. Red.) für die WM qualifiziert hat. Das war in den letzten Jahren schon anders. Der Ausfall von Vanessa Voigt schwächt das Frauen-Team natürlich auch noch einmal enorm. Da muss man schon sehen, dass man seine vier Mädels beieinander hat, vor allem für die Staffel.
In den letzten Rennen hat das super funktioniert, aber es darf auch krankheitsmäßig nichts passieren. Wir haben zwar einige Mädels, die sehr viel Potenzial mitbringen und in Zukunft sicher ihren Weg auch machen. Aber im Weltcup weht der Wind einfach noch einmal etwas rauer als im IBU-Cup oder im Junior-Cup. Von daher muss, glaube ich, noch ein bisschen Zeit ins Land gehen. Wir können schon optimistisch in die Zukunft blicken, aber aktuell ist einfach noch ein großes Gefälle innerhalb der Mannschaft.
Lenzerheide ist als Biathlon-Station noch relativ neu dabei, jetzt findet mit der WM das erste Großereignis in der Roland Arena statt. Kann das ein Faktor für die Rennen werden – Stichwort Anpassungsschwierigkeiten?
Es ist ja schon ziemlich lange klar, dass die WM dort stattfindet. So bekommt man auch noch genug Möglichkeiten, auch vor Ort noch mal zu trainieren. Franzi zum Beispiel hat das zuletzt ja auch nochmal genutzt. Ich kenne Lenzerheide noch aus dem Langlauf von der Tour de Ski. Das ist jetzt dort nichts Kompliziertes. Die mittlere Höhenlage ist jetzt nicht super heavy, aber man muss schon mit ein bisschen Fingerspitzengefühl laufen. Ich gehe von super Bedingungen aus, da wird nicht wie im letzten Jahr in Nove Mesto noch der letzte Schnee zusammengekratzt werden müssen. In Lenzerheide ist es oft sehr sonnig, mit viel Schnee und einer festen Piste, von den Bedingungen her wird das hervorragend.
Auch der Schießstand ist nicht wie in Oberhof oder Östersund, wo es schon sehr windanfällig ist. Von daher wird es von den Gegebenheiten her nicht super schwierig, was dann aber auch wieder seine ganz eigenen Tücken haben kann.
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