Die Kenianerin Ruth Chepngetich stürmt in Chicago zu einem sensationellen Marathon-Weltrekord und durchbricht erneut eine Schallmauer. Viele fragen sich: Wie ist eine solche Fabel-Zeit möglich? Eine deutsche Lauf-Legende ist von dem Rekord "überrascht".
Chicago ist das neue Berlin. Die Strecke in der "Windy City" in den USA hat nun offiziell die deutsche Hauptstadt als schnellste Marathonstrecke der Welt abgelöst.
Nach dem Fabelrekord des inzwischen verstorbenen Kenianers Kelvin Kiptum vor einem Jahr legte nun seine Landsfrau Ruth Chepngetich in beeindruckender Manier nach.
Als sie am Sonntag das Zielband durchlief, unterbot sie eine Marke, die bei den Frauen eigentlich unerreichbar schien. Als erste Frau überhaupt durchbrach Chepngetich die Schallmauer von 2:10:00 Stunden - 2:09:56, leuchtete auf.
Nicht nur das: Die 30-Jährige pulverisierte den Rekord der Äthiopierin Tigist Assefa, den diese 2023 in Berlin aufgestellt hatte um fast zwei Minuten. Auch Assefa verbesserte die Bestmarke damals um zwei Minuten. Ein Fabel-Rekord jagt den nächsten. In diesem Jahr fielen auch schon die Frauen-Bestzeiten über die 1500 Meter sowie die 10 Kilometer auf der Straße und der Bahn.
Ruth Chepngetich stellt gigantischen Rekord auf
Um zu illustrieren, wie gigantisch die Chepngetich-Leistung ist: Experten sagen, dass eine 2:10 bei den Frauen im Marathon in etwa einer Zeit von unter 2 Stunden bei den Männern entspricht. Das gelang unter regulären Wettbewerbsbedingungen noch keinem Mann (Eliud Kipchoges legendäres "Breaking 2" war ein "Labor"-Event).
Ruth Chepngetich lief die erste Hälfte in Chicago in 64:16 Minuten. Auch das ist bemerkenswert. Denn das entspricht der fünftschnellsten Halbmarathon-Zeit einer Frau jemals. Heißt: Die 30-Jährige legte ein halsbrecherisches Tempo an den Tag. Auf den ersten fünf Kilometern war sie so schnell, dass sie sogar auf einem 2:06:30-Kurs war.
Zwei männliche Pacer hielten die Geschwindigkeit der Athletin konstant hoch. Die zweite Hälfte der 42,195 Kilometer langen Strecke waren mit 65:40 Minuten nur leicht langsamer als die erste. Chepngetich brach nicht ein und lief zum Rekord.
"Mein Traum hat sich erfüllt", sagte die euphorische Kenianerin dem lokalen TV in Chicago. "Ich habe viel an den Weltrekord gedacht. In diesem Jahr war das Wetter perfekt. Ich habe mich seit London perfekt vorbereitet. Der Weltrekord war in meinem Gedanken und ich habe mich gut gefühlt."
Ihren Lauf widmete sie dem tragisch verstorbenen Wunder-Läufer Kelvin Kiptum (24), der an gleicher Stelle Geschichte geschrieben hatte. "Der Rekord ist zurück in Kenia."
Das Problem ist: 2024 läuft der Verdacht bei Fabelzeiten leider immer mit. Dafür reicht ein kurzer Blick in die Kommentarspalten unter Meldungen zu Ruth Chepngetichs Lauf. Ähnliche Erfahrungen macht im Radsport auch Dominator Tadej Pogacar, dem viel Skepsis entgegenschlägt. Im Lauf- und Marathonsport liegt das auch daran, dass in der Vergangenheit einige Läufer, auch viele aus Kenia, positiv auf Doping getestet wurden.
Vorsicht ist aber auch geboten, eine Sportlerin nicht unter falschen Verdacht zu stellen. Bei allem, was man weiß, hat sich Ruth Chepngetich bisher nichts zu Schulden kommen lassen.
Aufhorchen lässt die Tatsache, dass sich bei ihrem Agenten Federico Rosa auch zwei kenianische Läuferinnen befanden, die sich eine EPO-Dopingsperre einhandelten (Jemima Sumgong 2017 und Rita Jeptoo 2014). Das ist aber schon ziemlich lange her und lässt nichts auf die Sportlerin Ruth Chepngetich schließen.
Trotzdem produziert ein solcher Rekord Fragezeichen. Denn darüber schwebt eben die Frage: Wie sind solche krassen Sprünge immer wieder möglich?
Die "Super-Schuhe" haben einen großen Einfluss
Es gibt mehrere gängige und allgemeine Erklärungen für die Leistungsentwicklungen der Männer und Frauen in den vergangenen Jahren.
Da ist zum einen die Trainingslehre, die sich in den vergangenen Jahren nochmal stark weiterentwickelt hat. Athleten und Athletinnen laufen im Training vermehrt an ihrer anaeroben Schwelle, machen mehrere schnelle Einheiten am Tag und steigern so ihre Leistungen.
Ein wichtiger Punkt ist die Wettkampf-Ernährung, die einen wahren Boom hinter sich hat. Die gezielte Aufnahme von perfekten Mixturen an Kohlenhydraten während des Laufs hat einen Höhepunkt erreicht. Die Gels und Getränke werden durch ihre chemische Beschaffenheit teils speziell durch den Magen direkt in den Darm zur besseren Aufnahme geleitet.
Zudem spielen die effektiven Pacemaker eine Rolle. Zwei männliche "Hasen" hielten für Ruth Chepngetich das Tempo extrem hoch. Auch das war nicht immer so.
Die wichtigste Rolle dürften wohl die Schuhe spielen. Seit circa 2017 sind sogenannte Carbon-Schuhe aus dem Laufsport nicht mehr wegzudenken. Groß gemacht hat sie Kipchoge mit seinem Breaking-Two-Projekt. Auch Ruth Chepngetich lief in Chicago mit dem neuesten Modell ihres amerikanischen Ausrüsters. Die im Schuh integrierten Carbonplatten sorgen für eine Versteifung des Zehengelenks. So kommt es zu einer Energieeinsparung beim Laufen.
Perfekte Bedingungen in Chicago
Zudem ermöglichen spezielle Dämpfungs-Schaumstoffe in den Schuhen Energierückgewinnung. Der Laufsport ist auch ein Kampf der Schuhindustrie geworden. Angeblich sind Leistungssteigerungen von bis zu vier Prozent möglich. Je länger ein Lauf ist – wie eben ein Marathon – desto mehr Effekte haben auch die "Super-Schuhe". Heißt: Auf Marathonstrecke lässt sich noch am meisten herausholen.
Wenn nun diese Faktoren mit einem großen Talent und perfekten äußeren Bedingungen und Tagesform zusammenkommen, sind eben auch Zeiten möglich, die vorher unerreichbar schienen. Die Bedingungen in Chicago waren am Sonntag tatsächlich sehr gut. Niedrige Temperaturen um zwölf bis 13 Grad und nur wenig Wind. Es war augenscheinlich der perfekte Tag für Chepngetich.
Trotz allem ist die deutsche Lauf-Legende Herbert Steffny von der Leistung in Chicago verwundert. "Ich bin sehr überrascht, denn unter Experten galt der Weltrekord von Tigist Assefa von Berlin 2023 schon als sensationell gut", sagte der ehemalige Langstreckenläufer zu sport.de.
"Man erwartete, dass dieser für Jahre halten könnte. Dieser Rekord war schon eine Verbesserung gegenüber Brigid Kosgei von 2019 (2:14:04) um über zwei Minuten."
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Zur Erinnerung: Von 2003 bis 2019 stand der Marathon-Rekord der Britin Paula Radcliffe noch bei 2:15:25. Das war allerdings in Zeiten vor den "Super-Schuhen".
Steffny: Es wäre sogar eine noch schnellere Zeit drin gewesen
"Sicherlich gab es bei den Frauen noch einen gewissen Nachholbedarf in Bezug auf die Carbon-Schuhe, die eine Verbesserung in der Elite um rund drei Minuten bringen können. Aber das schien mir mit dem Rekord von Assefa in Berlin bereits eingelöst", so Steffny weiter.
Was den heutigen Laufcoach etwas stutzig macht: "Wenn man bedenkt, dass Chepngetich zu Beginn sogar auf 2:06er-Kurs war und somit mit einem zu schnellen Beginn eine suboptimale Renneinteilung hatte, wäre sogar eine noch schnellere Zeit drin gewesen."
Die beiden Pacemaker hätten einen guten Job gemacht, lobt Steffny. "Sie war immerhin schon einmal Marathon-Weltmeisterin und auch Halbmarathon-Weltrekordlerin. Aber dieser Sprung ist schon epochal", betont der Laufbuchautor. Man könne nun grübeln: "Entweder hatte sie etwas im Kaffee und/oder eine neue Katapultschuhkonstruktion."
Eine Unbekannte ist Ruth Chepngetich in der Lauf-Szene auf keinen Fall. Schon zwei Mal gewann die Kenianerin den Marathon in Chicago (2021 und 2022, 2023 wurde sie Zweite). Ihr Debüt feierte sie bereits 2017 in Istanbul, wo ihr 2018 auch der Durchbruch und Sprung unter die 2:20er-Marke gelang.
Im Jahr darauf holte sie in der Hitze Dubais den WM-Titel über die Distanz. 2021 wurde sie Dritte in London und stellte zwischenzeitlich den Weltrekord im Halbmarathon auf – mit einer Zeit von 64:02. Ihre Marathon-Bestzeit stand zuletzt bei 2:14:18 - aufgestellt 2022 in Chicago. An diesem Sonntag rannte sie dann fast viereinhalb Minuten schneller.
Bleibt die Frage: Sehen wir jetzt noch mehr Wahnsinns-Zeiten unter 2:10 bei den Frauen? "Nach diesem Lauf kann ich nichts mehr ausschließen", sagt Experte Steffny.

