Über den deutschen Supercup war in den vergangenen Tagen wieder einmal viel diskutiert worden. Aber wer dem Duell die Relevanz abstreiten will, der wurde an diesem hitzigen Samstagabend eines Besseren belehrt. Oder steckt was anderes dahinter?
Zunächst kurz zum Sport: Bayer 04 Leverkusen gewinnt nach dem letzten Titel der vergangenen Saison, nach dem DFB-Pokal, auch den ersten der neuen. Der Titelverteidiger der am kommenden Wochenende beginnenden Meisterschaft schnappt sich den absurd emotionalen und aus dem Ruder laufenden Supercup gegen den VfB Stuttgart. Nach Elfmeterschießen heißt es 4:3 für die Werkself, nach der regulären Spielzeit hatte es 2:2 (1:1) gestanden. Die Leverkusener schritten am späten Abend durch den Regen zum eilig aufgebauten Podest, um die Trophäe in den Himmel zu recken. Die Stuttgarter, von denen einige Spieler gar nicht mehr im Innenraum des Stadions sein wollten (aber mussten), klatschten dem Champion höflich Beifall. Nachdem sie sich zuvor beinahe ganz woanders geklatscht hätten.
Denn dieser Supercup war denkwürdig. Er war beste Reklame. Und eine tüchtige Ohrlasche für alle jene Fans, vor allem Ultras, die das DFL-Kommerzprodukt (natürlich ist es das!) böse als Kirmes-Cup verspotteten und ihn unbedingt abgeschafft sehen wollen. Dabei hatte dieses Spiel, welch beißende Ironie, ganz viele Elemente eines vernünftigen Rummels: den rasenden Musikexpress (das Tempo), "Hau-den-Lukas"-Momente (die schiere Kraft), das Pferderennen (das Drama) und natürlich Kirmesboxen.
Eine Liebeserklärung an den Fußball
Es war ein Spiel wie eigentlich immer, wenn diese beiden Mannschaften zuletzt aufeinandertrafen. Stuttgart verdiente sich großen Respekt für das mutige Anrennen und schöne Spiel. Und stand wieder einmal geschlagen da. "Kleine Fehler werden gegen Leverkusen bestraft. Es fuckt mich richtig ab, dass wir wieder verloren haben, obwohl wir 2:1 geführt haben", sagte der wütende Deniz Undav später. Zum vierten Mal in Serie gelang kein Sieg gegen Leverkusen, obwohl dieser möglich war. Das, was einst der FC Bayern gegen Borussia Dortmund war, wird immer mehr Bayer 04 Leverkusen gegen den VfB Stuttgart. Ein Spektakel, eine Liebeserklärung an den Fußball.
Dieses Mal allerdings garniert einer übertriebenen Prise Hitzigkeit, dass man sich zwischendurch fragen musste: Sind die eigentlich behämmert da unten auf dem Rasen? Was wurde denen denn ins Essen gemischt? Werbung für den hart attackierten Supercup machen, gut, schön, aber doch nicht nur mit Krawall und Remmidemmi! Nach 37 Minuten trat Bayers Neuzugang Martin Terrier volles Pfund auf den Knöchel des Stuttgarters Ermedin Demirovic. Der Franzose nahm es mit der deutschen Bedeutung seines Nachnamens für kurz zu genau. Für einen Moment sah es so aus, als müsse sich der VfB für länger von seinem neuen Mann verabschieden. Aber er konnte weitermachen, anders als Terrier, der Rot sah. Das sehr gute, bis dahin ausgeglichene Spiel driftete nach ein paar kleinen Nickligkeiten urplötzlich auf die schiefe Bahn ab. Am Ende hat Schiedsrichter Tobias Stieler elf Gelbe Karten verteilt und eben eine rote. Ob es das im Supercup schon einmal gab?
Wie im Kirmesrausch
Zum Zeitpunkt des tatsächlichen Angriffs auf den Knöchel von Demirovic stand es 1:1. Der unglaublich motivierte und präsente Victor Boniface drückte nach elf Minuten einen Ball von Edmond Tapsoba über die Linie, vier Minuten später glich Enzo Millot mit einem satten Schuss aus. Es ging hin und her. Der Zuschauer wurde von Erlebnissen fast erschlagen. Ein Kirmesrausch. Eine Fahrt im Musikexpress. Immer was los, immer in freudiger Habachtstellung, was als nächstes kommt. Etwa ein Pfostenknaller von Demirovic. Zwei weitere ließ Stuttgart vor der Pause noch folgen. Erneut Millot scheiterte an Latte und Torlinie (42.), Patrick Stenzel (45.+2) am Pfosten. Xabi Alonso hatte längst reagiert, hatte Transferstreitpunkt Jonathan Tah für Boniface gebracht, der das nicht lustig fand. Aber der spanische Trainer, sonst der große Gentleman, suchte Halt - vergebens suchte er ihn in seiner Empörung. Beinahe hätte er sich um Kopf und Kragen geschimpft - Gelb (42.).
Tah war warmherzig empfangen worden, obwohl er eigentlich zum FC Bayern wechseln wollte (oder noch will?). Der Poker um den Innenverteidiger endete zuletzt aber mit einem absurden Aussetzer von Bayer-Boss Fernando Carro, der Bayerns Sportvorstand Max Eberl attackierte. Die Münchner formulierten eine Protestnote. Aber dass dies das Ende ist, man kann es sich nicht vorstellen. Egal. Tah kam und rettete Bayer mit in die Pause. Dort ließ der Stadion-DJ Whitney Houston singen. Ein Akt der Deeskalation? Wenn ja, dann ging er zumindest nicht nachhaltig auf. Womöglich hätte das ewig schöne Friedenslied "Imagine" von John Lennon deutlich besser gepasst? Bei den Olympischen Spielen in Paris gelang es dem dortigen DJ mit jenem Lied vier aufgebrachte Beachvolleyball-Zicken abzukühlen. Die konnte sogar schnell wieder lächeln und vergaßen ihre kleinen Scharmützelchen am Netz.
So aber brauchte es wieder nur einen Funken, der es knallen ließ. Granit Xhaka, der nach langer Saison und ganz starker EM mit der Schweiz noch nicht wieder voll da ist, nahm den Ball nach einem Foul auf, hielt ihn fest und bellte sich mit Anthony Rouault an - Gelb (60.)! Jetzt war dieses Spiel wieder da, wo es auf der Pause aufgehört hatte. Mittendrin zwischen Krawall und Spektakel. Stuttgarts Trainer Sebastian Hoeneß wechselte dreifach. Deniz Undav kam, Bayern-Leihgabe Frans Krätzig und Silas. Unter anderem ging Angelo Stiller, dessen Ruhe am Ball dem VfB in der Schlussphase schmerzlich abhanden ging. Der Stadionsprecher musste sich rund um den Dreifach-Wechsel der Gäste kurz sortierten, ehe es gescheppert hatte. Krätzig flankte perfekt von links in die Mitte, Undav traf, 2:1. Die Party in Weiß tobte. Und auch die Emotionen immer mehr.
Jedes Foul wird hochgejazzt
Tapsoba und Demirovic bekamen sich vor einem Freistoß heftig die Wolle. Die Hand des Leverkusen fand sich plötzlich am Hals des Stuttgarters wieder. Der sagt später: "Ich glaube, wenn wir nicht auf dem Fußballplatz sind, dann geht das anders aus hier." Beide sehen Gelb. Auch auf den Tribünen tobt der Kampf. Die Gäste singen: "Ohne Stuttgart wär' hier gar nix los". Die Gastgeber antworten: "Ohne Bayer wärt' ihr gar nicht hier." In beiden Sätzen liegt Wahrheit. Jeder Pfiff, jedes Foul wird ab jetzt zu einem riesigen Skandal hochgejazzt. Es wird weiter geschubst, gestoßen, gegrätscht. Stieler lässt es Karten hageln. Auch für den ausgewechselten Boniface, der gemeckert haben soll, davon aber nichts wissen wollte. Fußball wird übrigens auch noch gespielt: Xabi Alonso geht All-in, bringt seine Asse Florian Wirtz, Patrik Schick und Jeremie Frimpong. Wenig später kommt auch noch Alejandro Grimaldo.
Bayer hat nun noch mehr A-Team auf dem Platz als zuvor. Und das lässt es knallen. Stuttgart steht fast nur noch hinten drin. Undavs Riesenchance zum 3:1 wird von Piero Hincapie spektakulär weggegrätscht. Bayer drängt und drückt. Nachdem Stuttgart phasenweise in bester Handballmanier alles im Griff hatte. Und dann schlagen die Last-Minute-Riesen wieder zu. Grimaldo spielt Schick sensationell gut frei, der schließt eiskalt ab (89.). "Ich freue mich, dass wir diese späten Comebacks nicht vergessen haben", sagte Torwart Lukas Hradecky. Und fast hätte seine Mannschaft den Wahnsinn schon früh in dieser Spielzeit wieder kultiviert, aber Frimpong traf den Ball aus kürzester Distanz in der Nachspielzeit freistehend nicht. Das Pferderennen war noch nicht vorbei.
Seitenwahl sorgt für Irritationen
Elfmeterschießen und Drama für den VfB. Eine Wahl der Seite für das Duell fiel aus, die Torlinientechnik am Gehäuse vor der VfB-Kurve funktionierte nicht, wie ein Bayer-Sprecher nachts sagte. Trainer Hoeneß fand das nicht so pralle. Der eingewechselte Krätzig, der Mann, der das 2:1 vorbereitet hatte, scheiterte am auf der Linie herumwandernden Bayer-Keeper (eine Irritationsmaßnahme für den Schützen, wie er später bekannte!). Ja, hau den Lukas! Und der zweite Joker, Silas, vergab. Sein Ball flog hoch über das Tor.
Vorbei mit der Aufregung war's aber freilich nicht. Kaum war das Spiel entschieden, gingen die Gruppen schon wieder aufeinander los. Überall wurde gerangelt, geschubst, diskutiert. Hoeneß knöpfte sich unter anderem Wirtz vor. Es ging um den unangemessenen Jubel eines Bayer-Spielers. "Es geht um eine Situation, nachdem das Spiel entschieden war. Damit hat Flo nichts zu tun. Es ging um einen anderen Spieler, der dachte, uns das Gefühl geben zu müssen, dass wir verloren haben und sich über uns lächerlich gemacht hat. Da hatten wir verschiedene Meinungen. Das ist aber bereinigt", sagte der VfB-Coach. Offenbar hatte Boniface eine abfällige Geste gemacht. Vermutlich war es nicht (nur) die Aussicht auf den Supercup, die die Spieler so sehr überhitzte, sondern das ständige Ringen um die Hoheit in diesem Duell, die noch seit langer Zeit unterm Bayer-Kreuz liegt.
Nach den Momenten der ständigen Attacken fuhren die Akteure dann endlich runter. Der für das robuste Spiel nicht unbekannte Robert Andrich sagte später bei Sat.1: "Emotionen gehören in gewissem Maß dazu. Manchmal war es ein Tick zu viel. Und wenn ich das sage, heißt das schon was. Es geht aber halt um einen Pokal." Und nun noch einmal zurück zum Sport: Die letzte deutsche Mannschaft, die Bayer Leverkusen in einem Pflichtspiel besiegt hat, ist immer noch der VfL Bochum. Am 34. Spieltag der Saison 2022/23.
Tobias Nordmann, Leverkusen