Bahnrad-Anfahrerin Pauline Grabosch hat bei den Olympischen Sommerspielen von Paris turbulente Tage hinter sich. Im Teamsprint-Halbfinale verbesserte sie gemeinsam mit Emma Hinze und Lea Sophie Friedrich zwar zunächst den Weltrekord, verpasste anschließend aber trotzdem auf dramatische Art und Weise das Finale.
Über die gewonnene Bronzemedaille, die gemischten Reaktionen aus Deutschland und den ganz besonderen Flair in Paris hat sie nun im Interview mit sport.de ausführlich gesprochen.
Pauline Grabosch, herzlichen Glückwunsch zur Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen im Bahnrad-Teamsprint! Haben Sie schon realisiert, dass Sie gemeinsam mit Emma Hinze und Lea Sophie Friedrich eine olympische Medaille gewonnen haben?
Pauline Grabosch: Ich glaube, das wird noch ein paar Tage dauern. Die Mädels fahren jetzt noch in zwei Disziplinen, hoffentlich um olympisches Edelmetall. Deswegen habe ich auch den beiden gegenüber eine Verantwortung: Ich stehe für mich und meine Medaille ein und weil es eine Team-Medaille ist, stehe ich auch für sie ein. Für mich ist ein ganz großer Traum in Erfüllung gegangen. Es wird noch lange dauern, bis ich realisiert habe, dass ich olympisches Edelmetall gewonnen habe. Umso schöner ist es, dass man morgens aufwacht und merkt, dass es doch kein Traum war.
Nehmen Sie uns mit: Wie war die Feier anschließend? Haben Sie die Nacht durchgefeiert? Oder nur Sie, weil Emma Hinze und Lea Sophie Friedrich noch weitere Wettkämpfe bestreiten?
Dadurch, dass wir Doppelzimmer haben, nehmen Alessa Pröpster und ich Rücksicht auf die Mädels, die noch Wettkämpfe fahren. Wir haben den Medientrubel noch ein bisschen mitgenommen und sind dann mit Familien und Freunden ins Deutsche Haus gegangen, um den Medal Walk zu genießen.
Die Bilder aus dem deutschen Haus sahen nach toller Stimmung aus …
Es war superschön, ein Moment für die Ewigkeit. Wir hatten die Möglichkeit, unsere Familien und unsere Freunde mitzunehmen. Das war auch schön für die Leute, die uns den Rücken immer freigehalten haben. Da die Mädels noch fahren, haben wir natürlich nicht gefeiert. Aber wir haben die Eindrücke aufgenommen, gemeinsam genossen und uns feiern lassen. Das kann uns keiner mehr nehmen.
Auch bei ihrem Heimatverein RSV Osterweddingen wurde mitgefiebert, habe ich im Netz gesehen. Ihr Telefon stand anschließend gar nicht mehr still, oder?
Dadurch, dass ich versucht habe, im Vorfeld so wenig wie möglich mitzubekommen, kamen erst nach und nach die Nachrichten rein. Da habe ich dann mitbekommen, wer das alles verfolgt und wer mit uns mitgefiebert hat. Wir haben viel erreicht und sind immer wir selbst geblieben. Seit einem halben Jahrzehnt dominieren wir die Weltbühne im Team, auch die Mädels in den Einzeldisziplinen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, so lange den Fuß in der Tür zu haben.
Bahnrad-Rekorde purzeln bei Olympia 2024: "Das ist Sportgeschichte"
Ich würde mit Ihnen gerne noch einmal auf die Quali und aufs Halbfinale zurückschauen: Sie haben gemeinsam mit Lea Sophie Friedrich und Emma Hinze nach einer soliden Qualifikation (45,644 s) im Halbfinale fulminant vorgelegt und einen Weltrekord (45.377s) aufgestellt. Doch dann kamen erst die Britinnen und dann die Neuseeländerinnen, die ebenfalls jeweils Weltrekord fuhren. Was geht da in einem vor?
Puh … wir sind sehr routiniert in unseren Abläufen, jeder vom Team weiß, was er zu tun hat. Wir drei wissen, dass wir einander vertrauen können. Die Quali ist bei uns in der Regel etwas langsamer, das ist eine unserer großen Stärken, weil wir die Nerven behalten. Wir wussten, was wir können und haben alles da draußen gelassen. Dann der Weltrekord: Wir sind noch nie so schnell gefahren, das war unsere persönliche Bestzeit. 45.8 Sekunden war es letztes Jahr in Glasgow. Das ist einfach fast eine halbe Sekunde, die wir jetzt schneller gefahren sind. Das ist eine Welt. Wenn man die Sportart nicht so richtig kennt, hört sich eine halbe Sekunde nicht nach viel an, aber für uns ist das eine Welt.
Zwei Teams waren an diesem Tag aber einfach schneller. Dass es so knapp wird, hatte keiner gedacht. Das ist aber Bahnrad- und Leistungssport. Es ist auch der olympische Gedanke, dass man seine Leistung und die Leistung anderer anerkennt – ohne einen bösen Hintergedanken. Natürlich darf man im ersten Augenblick 'schade' sagen. Aber wir haben so schnell den Schalter umgelegt und uns die Bronzemedaille erkämpft. Es war wunderschön auf dem Podium zu stehen und den Moment mit den Mädels zu teilen. Es war eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Eine absolut fulminante Performance von allen, die da olympische Geschichte geschrieben haben. Das ist Sportgeschichte.
Bei Ihnen fiel gerade das Wort Anerkennung. Ihr Halbfinale hat in Deutschland Schlagzeilen gemacht, teilweise wurde die Leistung als "Weltrekord ohne Wert" und die Bronzemedaille als "Trostpreis" bewertet. Haben Sie das mitbekommen?
Ja, das ist bei mir angekommen. Die Fragen, die direkt im Interview nach dem Wettkampf gestellt wurden, gingen ja auch schon ein bisschen in die Richtung. Aber wir haben da eine ganz klare Meinung: Wir sind sehr stolz auf diese Medaille. Es ist ein sehr hartes Meinungsbild, das teilweise in den Medien verbreitet wurde. Auch, wenn wir an dem Tag als favorisiertes Team an den Start gegangen sind und ein halbes Jahrzehnt fast ungeschlagen waren, weiß man, dass alle Teams, die hier am Start sind, Gold holen wollen. Wir haben jahrelang jedes Mal unseren eigenen Weltrekord verbessert und so auch dieses Mal. Ein Weltrekord bedeutet, dass noch nie ein Team schneller gefahren ist – das soll wertlos sein? An dem Tag waren einfach zwei Teams superknapp schneller. Das ist ein Fakt, den wir mit Würde tragen.
Es hat etwas mit Respekt zu tun. Wo kommen wir denn dahin, wenn eine olympische Medaille nicht wertgeschätzt wird? Wir haben eine olympische Medaille gewonnen und nicht Gold verloren. Überhaupt bei den Spielen dabei zu sein, ist etwas Besonderes. Mit so einer Berichterstattung wird nicht nur die Leistung eines Sportlers bewertet, kritisiert und kommentiert, sondern dem Sport auch kurz- und langfristig geschadet. Es wird ein Ideal-Muster in die Welt herausgeschickt, welches schwerwiegende Auswirkungen auf die jüngere Generation haben kann. Ich will ein Vorbild für junge Sportlerinnen und Sportler sein. Ich habe und hatte selbst welche, als ich angefangen habe von Olympia zu träumen. Diese Verantwortung trage ich jedes Mal auf meinen Schultern mit mir, aber mit Stolz. Ich will immer wieder die beste Version von mir selbst sein.
Es ist ein Privileg, sein Land zu repräsentieren. Ich ruhe im Moment so tief in mir, dass all diese Schlagzeilen nicht an mich herankommen. Ich sehe es als Verantwortung, ganz ruhig und zugleich tief emotional zu sagen: Hey Leute, wisst ihr eigentlich, was wir leisten? Nicht nur für uns, sondern für all die Menschen da draußen. Ich bin nur ein Mensch, wir sind alle nur Menschen. Und dann solche Reaktionen zu lesen, ist einfach schade.
Sie sagen, Sie wollen auch Verantwortung für ihre Teamkolleginnen Emma Hinze übernehmen. Haben Sie bei den beiden gemerkt, dass die Schlagzeilen mit Blick auf ihre Einzelstarts negativen Einfluss hatten?
Ich kann und will nicht für die beiden sprechen, aber ich bin mir sicher, dass sie ihr Ding machen werden. Denn wir werden die Medaille für den Rest unseres Lebens mit Stolz tragen. Wir alle ruhen so sehr in uns, ich habe volles Vertrauen darin, dass sie die olympische Bühne in den nächsten Tagen noch nutzen werden und zeigen können, was sie drauf haben. Wir haben vier Weltmeistertitel in Folge gewonnen, auch das kann uns keiner mehr nehmen. Aber es muss bewusst sein, was so etwas mit uns und den Menschen um uns herum macht. Wir inspirieren so viele Leute, so wie mit den kleinen Sportlern aus Osterweddingen: Ich kenne die meisten gar nicht mehr, aber sie freuen sich jedes Mal, wenn ich vorbeikomme. Und auch ich bin dankbar, solche Erfahrungen zu machen. So kann man auch etwas zurückgeben. So etwas ist Gold wert. Diese Medaille ist eine der besondersten, die ich jemals gewinnen durfte.
Euphorie in Paris schwappt über
Zum Abschluss eine Frage zur Stimmung in Paris: Wie groß ist die Euphorie rund um die Olympischen Spiele von Paris? Wie erleben Sie die Spiele?
Wir sind nicht im Olympischen Dorf, sondern waren dort nur eine Nacht, um Flair zu schnuppern. Allein die paar Stunden dort haben gezeigt, wie gigantisch diese Sportfamilie ist. Und wie groß das Privileg ist, dabei sein zu dürfen. Dass der Olympische Gedanke, dabei sein ist alles, wirklich eine extrem große Bedeutung hat – obwohl man immer nur an Medaillen denkt. All das mitzunehmen, ist ein großer Teil bei den Sportlern, der oftmals unterschätzt wird.
Paris hat sich extrem viel einfallen lassen, mit diesen vielen Wettkampfstätten, die überall in der Stadt verteilt sind. Es ist eine einmalige Stimmung, so viele Leute sind hier. Es ist wunderschön, dass es europäische Spiele sind. Europa ist zusammengerückt und schreibt Sportgeschichte, das ist etwas ganz Besonderes. Ich habe jetzt das Privileg, Zeit zu haben und auch andere Sportler kennenzulernen.
Was nehmen Sie sich noch vor? Sicher werden Sie Ihre Teamkolleginnen anfeuern …
Ja, auf jeden Fall. Und ansonsten das Paris-Flair mitnehmen, Momente sammeln und genießen. Paris hat sich etwas einfallen lassen. Und wenn ich mal ganz lieb aus dem Hintergrund 'winken' darf: Man würde sich freuen, wenn Deutschland auch mal wieder die Spiele nach Hause holt. Es ist wunderschön, einfach einmalig.
Das Interview führte Gerrit Kleiböhmer


