In seiner sport.de-Kolumne beleuchtet Florian Regelmann Themen, die ihn umtreiben, begeistern oder aufregen. Diesmal geht es um die Olympischen Spiele und die Frage, wo der deutsche Spitzensport vor Paris steht.
Nach der Fußball-EM ist vor den Olympischen Spielen! Im Super-Sport-Sommer 2024 jagt ein Highlight das nächste - wer aber in Paris auf einen deutschen Medaillenregen hofft, wird enttäuscht werden.
Was ich am Samstag, den 27. Juli machen werde? Das weiß ich ganz genau! Um 8.30 Uhr den Stream anmachen, denn da beginnt in der La Chapelle Arena die Gruppenphase im Badminton - Mixed! Saugeil! Der zweite Stream kommt schon um 9 Uhr dazu. Rudern, Vorläufe im Einer.
Und um 10 Uhr geht es im Grand Palais auch schon mit Fechten los, Damen-Degen, 1. Runde. Wo ist Britta Heidemann, wenn man sie braucht??!! Ich war vor einigen Wochen live vor Ort bei der EM in Basel - da wurde mir nochmal so richtig klar, was Fechten für ein überragender Sport ist.
Fechten ist aber auch ein gutes Beispiel für einen Sport, in dem Deutschland nicht mehr zur Weltspitze gehört. In Paris wird keine einzige deutsche Mannschaft auf Medaillenjagd gehen, im Einzel sind nur Anne Sauer und Matyas Szabo am Start.
Team D: Tokio war ein Tiefpunkt
Ich will hier keinem die Vorfreude auf die Olympischen Spiele nehmen, aber zur Erinnerung: In Tokio gab es vor drei Jahren "nur" 37 Mal Edelmetall für Team D, zum ersten Mal fiel Deutschland unter die 40-Medaillen-Marke, obwohl die Wettbewerbe insgesamt mehr wurden. Die USA und China holten mehr Goldmedaillen als Team D Medaillen insgesamt.
Zum ersten Mal seit Ewigkeiten gab es keine einzige Medaille in Mannschaftssportarten. Selbst in traditionellen Spezialdisziplinen wie Schießen, Rudern oder Kanu setzte es Enttäuschungen. Es war die schlechteste Bilanz seit der Wiedervereinigung. Im Medaillenspiegel war es auf den Platz (9.) bezogen sogar das schlechteste Abschneiden seit den 1950er-Jahren.
Die Anzahl deutscher Goldmedaillen in Tokio? Zehn. "Zehn Goldmedaillen, das haben doch früher die Kanuten alleine geholt", platzt es lachend aus Frank Busemann heraus. So falsch ist das übrigens gar nicht - 1992 in Barcelona gewann Deutschland nur im Kanu siebenmal Gold. Ich habe mich mit unserem Silber-Helden von Atlanta 1996 zu einem Gespräch über den Ist-Zustand im deutschen Leistungssport verabredet.
Deutschland: Die müßige Medaillenspiegel-Debatte
Wobei wir, wenn wir ganz ehrlich sind, uns das Gespräch auch hätten sparen können. Es hat sich im Vergleich zu Tokio einfach nichts an der Lage verändert. "Deutschland ist nur noch ein sympathischer Europa-League-Verein" - so war damals der Tenor eines Kommentars, den ich nach Ende der Sommerspiele schrieb. Das ist auch heute die bittere Wahrheit. Vielleicht geht's auch eher Richtung Conference League.
Ich sehe die Diskussionen schon wieder vor mir, wenn die erste Zwischenbilanz im Medaillenspiegel nicht positiv aussieht und plötzlich gefühlt das ganze Land wieder darüber spricht und kollektiv aufschreit, weil wir nicht mehr zur absoluten Spitze gehören.
Dabei gibt es schlicht und ergreifend keinen Grund, warum es plötzlich besser laufen sollte als beim letzten Mal. Immerhin: Wenn man eine realistische Medaillenprognose aufstellt, landet man ungefähr bei der Ausbeute von Tokio, schlimmer sollte es also nicht werden.
Dass das schon ein Erfolg wäre, zeigt, wie die Lage ist. Müßig ist die Debatte ohnehin. Denn auch die Analyse ist genauso einfach, wie sie es schon in Tokio war. Den deutschen Athletinnen und Athleten ist kein Vorwurf zu machen. Wenn ich in nahezu keiner Sportart zu den Ländern gehöre, die am meisten Geld investieren, wie will ich dann gleichzeitig erwarten, Medaillen abzuräumen?
Wenn die Sportler in den Ländern, mit denen man konkurriert, oftmals höhere Prämien und mehr Anreize bekommen, wie will ich da die gleichen Erfolge erwarten? Es ergibt keinen Sinn. Ein Beispiel: Für Gold gibt es in Paris wieder 20.000 Euro, das ist keine Steigerung im Vergleich zu Tokio oder im Vergleich zu Rio, schade eigentlich.
"Wir werden die Medaillenstatistik aus früheren Zeiten nicht mehr erreichen. Verfall hört sich hart an, aber es kann nur darum gehen, den Abwärtstrend aufzuhalten. Wir stehen da, wo wir stehen und dürfen uns davor auch nicht verschließen. Und wir müssen uns einer ehrlichen Diskussion stellen und klären, was wir wirklich wollen. Ob wir dem Leistungssport in Deutschland mehr unter die Arme greifen wollen, oder ob wir eben sagen, dass uns das so reicht", meint Busemann.
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Busemann: "Wir wollen alles haben, aber nichts dafür geben"
Leistungssportreform, Sportfördergesetz, unabhängige (!) Spitzensportagentur - es gibt zwar genügend Schlagworte, die seit Jahren im Raum stehen und für sich gesehen alle keine schlechten Ideen sind, aber am Ende des Tages siehst du eben trotzdem nur am Thema Geld, wie groß das Commitment wirklich ist.
Und siehe da, jetzt plötzlich tut sich doch ein bisschen was. Nachdem im Haushalt 2024 Einsparungen bei der Förderung des Spitzensports nur abgemildert werden konnten, sahen sich der DOSB und weitere Sportorganisationen wie die deutsche Athletenvereinigung kürzlich bei der Debatte der Bundesregierung um den Haushalt 2025 sogar zu einer Art "Brandbrief" genötigt. So groß war die Sorge. Aber offenbar haben die Appelle gewirkt.
Denn der Sporthaushalt soll im Vergleich zum laufenden Jahr tatsächlich um 49 Millionen Euro auf 331 Millionen Euro steigen. Das Wichtigste: Es wird besonders in die Förderung des "Leistungssportpersonals" investiert, was unter anderem bedeutet, dass endlich auch die Gehälter der Trainerinnen und Trainer zum ersten Mal seit über zehn Jahren erhöht werden können.
Wenn man bedenkt, wie hart die Verhandlungen der Bundesregierung waren, ist es ehrlich gesagt fast schon ein kleines Wunder, dass der Sport dabei noch so gut weggekommen ist. Und es ist zumindest ein ermutigendes Zeichen. Das ist die positive Lesart.
Es gilt aber trotzdem festzuhalten, dass das nur ein Anfang gewesen sein kann, wenn man irgendwann wieder den Anspruch erheben will, bei Olympischen Spielen im Kreis der Großen mitzuspielen. Dass die Mittel immer noch nicht ausreichend sind, zeigt allein schon die Tatsache, dass für die Basis, also für den Breitensport und da zum Beispiel für die Sanierung und Modernisierung von Sportstätten, nicht mehr genügend Mittel da sind.
"Wir wollen alles haben, aber nichts dafür geben. Diese Haltung spiegelt sich ja auch in anderen Bereichen der Gesellschaft wider. Die Rahmenbedingungen, die wir für erfolgreichen Sport bräuchten, sind aktuell nicht gegeben", sagt Busemann klipp und klar.
Deutschland: Sind wir überhaupt eine große Sportnation?
Ist Deutschland überhaupt die große Sportnation, für die wir uns immer halten? Oder ist Deutschland dann doch eher eine "Nur-Fußball"-Nation?
Ich muss bei dieser Frage immer an den ehemaligen Weltklasse-Fechter Max Hartung denken, der mir mal erzählte, dass in Italien Kinder angerannt kämen, um Selfies mit ihm zu machen oder nach Autogrammen zu fragen, in Deutschland würde ihm das aber nicht passieren. Es ist sicher kein Zufall. Genauso schwach ist es nach wie vor, dass der Sport politisch vom Innenministerium halt so nebenbei mitgemacht wird.
Auf der anderen Seite zeigten zum Beispiel die European Championships vor zwei Jahren in München durchaus, dass endlich mal wieder so ein Hauch von einem olympischen Geist über das alte Münchner Olympia-Gelände und auch so ein bisschen durchs Land wehte - die Begeisterung war enorm.
Wenn man dann noch bedenkt, was Olympische Spiele für eine Schubwirkung haben, Frankreich wird als Gastgeber extrem abliefern und wahrscheinlich dreimal so viele Goldene holen wie Deutschland, dann brauchen wir vielleicht tatsächlich mal wieder Sommerspiele, um nachhaltig etwas zu verändern.
Allerdings muss dabei auch immer die Frage gestellt werden, ob man sich wirklich bewerben will. Will man sich wirklich bewerben, solange das IOC unter Thomas Bach so funktioniert, wie es eben funktioniert? Wenn man mutmaßlich seine gerechtfertigte Haltung für einen Ausschluss Russlands in Paris doch lieber aufgeben muss, wenn man die Spiele eines Tages haben will? Die Antwort kann sich jeder selbst geben.
Busemann bei Olympia-Bewerbung skeptisch
Fakt ist: Nach vielen gescheiterten Versuchen gibt es den festen Willen, sich wieder um die Ausrichtung von Olympischen Spielen 2036 oder 2040 zu bewerben. Busemann bleibt aber skeptisch: "Ich sehe es kritisch, weil wir einfach in einer Gesellschaft von Zauderern und Problemsehern leben. Die Menschen, die die Ärmel hochkrempeln wollen, werden in ihrem Enthusiasmus immer sofort eingebremst, weil es immer gute Gründe gegen etwas gibt."
Dass Deutschland im Weltmaßstab finanziell nicht mithalten kann, ist trotz der positiven Tendenz im Sporthaushalt des Bundes offensichtlich. Wir landen aber auch schnell bei der Frage, ob wir in unserem Land überhaupt noch eine ausreichende Leistungskultur haben?
Busemann erzählt von einem Gespräch mit einem Inder, in dem es darum ging, dass gute schulische Leistungen bei uns tendenziell negativ behaftet sind. Nach dem Motto: Streber. In Indien erfährst Du im Gegenteil dazu mehr Wertschätzung.
Eine Gesellschaft, die den Leistungsgedanken nicht mehr lebt, in der Leistung fast schon eher verpönt ist, wird logischerweise perspektivisch auch keine Masse an Sportlern produzieren, die eine Medaille nach der anderen holen. Auch wenn es sich nicht verallgemeinern lässt, gehört diese Entwicklung zur ehrlichen Bestandsaufnahme dazu.
Neugebauer und Co.: Das könnten die deutschen Helden von Paris werden
Das klingt jetzt alles zugegeben relativ negativ - und es ist leider auch vieles relativ negativ zu bewerten - aber das ändert nichts daran, dass es auch in Paris wieder deutsche Heldinnen und Helden geben wird. Ich denke an Angelina Köhler und Lukas Märtens, die im Schwimmen für großartige Momente sorgen könnten.
Ich denke auch sofort an Oliver Zeidler im Rudern, Lukas Dauser im Turnen oder an Doreen Vennekamp. Noch nie gehört? Dann macht Euch bereit. Vennekamp kommt als Welt-Sportschützin des Jahres nach Paris und wird mit der Sportpistole hoffentlich Gold holen.
Und ich denke natürlich an Leo Neugebauer, der am 3. August abends kurz vor 22 Uhr Zehnkampf-Olympiasieger werden könnte. 8961 Punkte erzielte Neugebauer kürzlich bei den College-Meisterschaften in den USA - unfassbar.
"Er ist vom Typ her, vom Kopf her, von der Leistungsfähigkeit her der absolute Favorit. Und da sage ich immer so gerne: Das kann gar nicht erfüllt werden. Bisher kennt ihn ja nur die wirkliche Fanbase aus der Leichtathletik, jetzt kennt ihn vielleicht bald ganz Deutschland. Er muss diese Leistung von den College-Meisterschaften aber erstmal konservieren, das ist nie einfach und deshalb wird das auch alles kein Selbstläufer", ist Busemann noch vorsichtig.
Leo Neugebauer als einer der großen deutschen Superstars von Paris würde aber nur zu gut ins Bild passen. Der 24-Jährige ist nämlich das Gegenteil eines Athleten, der von der deutschen Sportförderung zum potenziellen Olympiasieger gemacht worden wäre.
Er ist in die USA nach Texas aufs College gegangen und hat seinen ganz eigenen Weg eingeschlagen. Ihn hätten dann quasi die Amis zum Olympiasieger gemacht. Und das zeigt doch ganz gut, wo Sport-Deutschland im Jahr 2024 so steht.
sport.de-Kolumnist Florian Regelmann kann auf viele Jahre als leitender Sportredakteur zurückblicken, seit März ist er als Head of US Sports für HEIM:SPIEL tätig.



