In seiner sport.de-Kolumne beleuchtet Florian Regelmann alle Themen, die ihn gerade umtreiben, begeistern oder aufregen. Diesmal geht es um die Frage, ob die Darts-WM tatsächlich nach Saudi-Arabien abwandern könnte.
Im Schatten der Fußball-EM findet in dieser Woche noch ein anderes Sport-Highlight statt: der World Cup of Darts in der Eissporthalle in Frankfurt - die Team-WM. Ein guter Zeitpunkt, um sich mit der Frage zu beschäftigen: Wo steht Darts eigentlich im Jahr 2024?
Als ich mit Barry Hearn, dem Boss der Professional Darts Corporation (PDC), telefoniere, dauert es keine Minute, ehe sich das Gespräch zum ersten Mal um Luke Littler dreht. Es ist nicht übertrieben, zu sagen: Luke "The Nuke" Littler IST Darts im Jahr 2024.
Der Weltmeister und die Nummer eins der Welt heißt zwar Luke Humphries. Der erfolgreichste aktive Spieler heißt natürlich immer noch Michael van Gerwen. Aber die Darts-Welt dreht sich dennoch ganz um diesen im Januar 17 Jahre alt gewordenen Engländer. Ein 17-Jähriger, der nicht wie ein 17-Jähriger aussieht, nicht wie ein 17-Jähriger spielt und sich auch nicht wie ein 17-Jähriger verhält - gut, mal abgesehen vom PlayStation-Zocken.
Die Entwicklung und das Wachstum von Darts waren bereits vor Littler beeindruckend, aber er hat den Sport angefangen mit seinem märchenhaften Run ins WM-Finale nochmal auf eine ganz neue Ebene gehoben.
Luke Littler: Ein Erdbeben für Darts
"Luke Littler hat das Potenzial, für Darts das zu werden, was Messi und Ronaldo im Fußball sind. Er bringt Darts raus aus dem Sportteil auf alle Titelblätter. Er hat einen erdbebenartigen Effekt auf Darts", erklärt Hearn und rattert sofort die passenden Zahlen als Beweis dafür herunter.
1,8 Millionen Zuschauer bei Sky im englischen Fernsehen war der Spitzenwert für Darts vor Littler. Eine gute Zahl, die sich auf einem ähnlichen Niveau wie ein Mittelklasse-Premier-League-Spiel im Fußball bewegt. Mit Littler? 4,8 Millionen bei der WM, bang! Eine fast schon astronomische Zahl, die sogar Fußball in den meisten Fällen übertrumpft.
Und die WM war keine Eintagsfliege. Littler sorgte alleine dafür, dass die Einschaltquoten bei der Premier League Darts Woche für Woche mindestens 50 Prozent besser waren als zuvor. Littler hat Darts in Windeseile transformiert. Und er gewinnt eben auch fast alles.
Seit seinem Finaleinzug bei der WM hat Littler in diesem Jahr mit dem Triumph bei der Premier League seinen ersten Major-Sieg und einen der prestigeträchtigsten Titel der Szene eingefahren. Er hat in Belgien und Österreich seine ersten beiden Titel auf der European Tour gefeiert. Er hat in Bahrain und Polen zwei World-Series-Titel gewonnen. Der Typ ist komplett unfassbar. Höchstwahrscheinlich wird er im Juli auch das World Matchplay gewinnen, alles andere wäre aktuell fast schon eine Überraschung.
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Darts: Luke Littler als Inspiration für den Nachwuchs
Beim World Cup in Frankfurt ist der ManUnited-Fan in dieser Woche nur nicht dabei, weil er einfach noch nicht genügend Zeit hatte, um sich in der Order of Merit so weit nach oben zu spielen, dass er zu den besten zwei Engländern gehört. Alleine, dass er überhaupt nach so kurzer Zeit schon auf Rang 25 steht, ist absurd. Wahrscheinlich schon ab nächstem Jahr wird es beim World Cup für Humphries, Michael Smith und alle anderen Engländer nur noch darum gehen, wer mit Littler spielen darf.
Littler hat aber noch mehr geschafft, als "nur" sportlich zu dominieren. "Luke hat nochmal eine ganz neue jüngere Zielgruppe zum Darts gebracht. Wir sehen auch einen unglaublichen Zuwachs in unseren Nachwuchs-Programmen. Er zeigt allen Kids, dass es keine Grenzen für dich gibt, dass du alles erreichen kannst, er ist eine unglaubliche Inspiration", erzählt Hearn.
Er ist auch deshalb eine Inspiration, weil seine Art zu spielen besonders ist. Er nimmt einfach mal 125 mit einer 25-Bullseye-Bullseye-Kombination raus, er kreiert eigentlich am laufenden Band "Wow-Momente”, die Darts auch bei normalen Sportfans in den Fokus rückt. Dass seine Spielweise nicht immer jedem gefällt (Grüße an Ricardo Pietreczko), ist ihm dabei - zu Recht - herzlich egal.
Littler wirkt unglaublich reif und vernünftig für sein Alter, zudem scheint er ein sehr gutes Team um sich herum zu haben. Er ist zudem keiner, der zehn Stunden pro Tag trainieren muss, weil er so ein außergewöhnliches Naturtalent ist.
Darts: Der Albtraum von der Neun-Darter-Maschine
Littler ist das Wunderkind, aber er ist auch nur die Spitze einer Entwicklung, die immer mehr Youngster nach vorne spült. Young Guns, die gefühlt alle keinen Druck spüren, keine Angst haben, dafür aber die Chance sehen, mit harter Arbeit im Darts ihr Leben zu verändern. Das Niveau ist absurd hoch geworden und wird nur immer noch höher.
"Ich habe einen Albtraum, der sich immer wieder wiederholt. Dass ein Typ kommt und nur noch Neun-Darter wirft, in jedem Leg. Und er den Sport zerstört." Hearn muss lachen, aber es beschreibt ganz gut, was im Darts los ist. Alle Spieler zwischen 40 und 50 Jahren stehen enorm unter Druck und müssen selbst eine Schippe drauflegen, wenn sie von den Jungen nicht überrollt werden wollen.
Auch in Deutschland tut sich viel. Der 23-jährige Niko Springer gehört zu den besten Spielern auf der Development Tour, um nur ein Beispiel zu nennen. Vielleicht hat er ja das Potenzial zum Champion? Von den etablierten deutschen Topspielern durchlebt Gabriel Clemens, 2023 noch im WM-Halbfinale, momentan eine mittelschwere Krise.
Dafür hat Martin Schindler mit seinem ersehnten ersten Turniersieg 2024 eine extrem wichtige Hürde auf dem Weg in die Elite genommen. Im laufenden Jahr gehört Schindler, was den Average betrifft, schon zu den Top 8 der Welt.
Die entscheidende Frage ist weiterhin, wann ein Deutscher ein ganz großes Ding holen, sich in den Top 10 etablieren und Darts in Deutschland so auf eine ganz neue Ebene hieven kann. Sozusagen der deutsche Littler wird gesucht.
"Mich würde es nicht überraschen, wenn es in den nächsten zwei Jahren so weit ist. Und wenn es passiert, werden wir nochmal eine Explosion im deutschen Markt erleben, obwohl der deutsche Markt schon jetzt bekanntermaßen sehr wichtig für uns ist", sagt Hearn.
Darts-Preisgeld steigt und steigt
Ein Grund, warum Darts auch für den Nachwuchs immer attraktiver wird, ist ohne Zweifel das extrem gestiegene Preisgeld. Viele Jungs (und Mädels!) sind bereit, viel zu opfern, um an die Spitze zu kommen und sich ihre Träume zu erfüllen.
Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem du mit Darts eine, zwei, drei Millionen Euro im Jahr verdienen kannst, wenn du richtig richtig gut bist. Darts ist längst raus aus der Kneipe, Darts ist ein ernstzunehmender Beruf geworden. “Wir haben eine wunderschöne Karotte aus dem Fenster hängen. Wenn du die nötige Arbeit reinsteckst, gehört sie vielleicht dir”, beschreibt es Hearn.
Faszinierend ist, wie Darts inzwischen nicht mehr nur in Großbritannien, Deutschland oder den Niederlanden wächst. Kürzlich war die PDC erst zum zweiten Mal überhaupt in Polen und verkaufte 13.000 Tickets. Hearn kann sich kaum retten vor Anfragen.
Albanien, Rumänien, Ungarn, Singapur, Thailand, China, in den USA wird das Interesse immer größer, die Liste ist schier unendlich - Länder, die bisher wenig oder rein gar nichts mit Darts zu hatten, wollen Events veranstalten. Das einzige Problem der PDC scheint momentan zu sein, dass das Jahr nur 52 Wochen hat - so sehr boomt Darts.
Und was ist jetzt mit Saudi-Arabien? "Die Saudis haben mich gefragt, ob sie ein Event bekommen können. Ich habe sie gefragt, ob wir dann da auch Alkohol haben können. Sie meinten nein, also habe ich gesagt: Dann könnt Ihr auch kein Event haben. Darts ist die Mischung aus sensationeller sportlicher Leistung und Party, das macht Darts so einzigartig", weiß Hearn natürlich nur zu gut.
Darts-WM: Das Saudi-Arabien-Thema
Der 76-Jährige macht aber auch keinen Hehl daraus, dass Saudi-Arabien ein attraktives Ziel sein wird, sobald sie sich auf die Spielregeln im Darts einlassen, schwierige Menschenrechtslage hin oder her. Die Hearn-Familie hat im Boxen schon zahlreiche Mega-Kämpfe in Saudi-Arabien ausgetragen, die Verbindung ist also ohnehin gut.
"Es gibt offenkundig Punkte, die für uns nicht akzeptabel sind, aber wir sind im Sport-Business, wir sind nicht in der Politik. Ich würde es nie ausschließen, nach Saudi-Arabien oder sonstwo in der Welt hinzugehen, wenn die Kohle stimmt. Und die Kohle stimmt bei den Saudis immer", erklärt Hearn offen.
Und weiter: "Aber sie werden erstmal keine WM bekommen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir da die gleiche Atmosphäre hätten. Aber sag niemals nie. Im Snooker haben wir ähnliche Diskussionen. Ein Teil von mir will nicht, dass eine Snooker- oder Darts-WM nach Saudi-Arabien geht, einfach aufgrund der Geschichte. Aber wie gesagt, wir müssen abwarten, wie sich die Dinge im Markt entwickeln. Das Wichtigste für mich ist, dass wir es schaffen, das Preisgeld stetig zu erhöhen. Ich will, dass unsere Sportler, die so viel investieren, am Ende des Tages angemessen entlohnt werden."
Ist es wahrscheinlicher, dass die Darts-WM irgendwann in Saudi-Arabien stattfindet oder doch irgendwann in Deutschland? Weder noch! Am wahrscheinlichsten ist immer noch, dass die WM im Alexandra Palace bleibt. Wer Hearn genau zuhört, kann erahnen, wohin die Reise geht. Darts wird, so wie gefühlt (oder nicht mal nur gefühlt!) jeder andere Sport auch, nicht daran vorbeikommen, das Geld der Saudis anzunehmen.
Im Tennis beispielsweise werden die Saudis in den nächsten Jahren ein großes Event bekommen, aber natürlich keinen Grand Slam. So ähnlich wird es auch im Darts laufen. Später im Gespräch bringt Hearn noch die Idee auf, dass die WM perspektivisch auch jedes Jahr woanders ausgetragen werden könnte, vielleicht sogar sollte, um dem globalen Ansatz auch gerecht zu werden. Ein Jahr in London, ein Jahr in Deutschland, ein Jahr in den Niederlanden - warum eigentlich nicht?!
"Die WM gehört nicht zwingend England. Ich denke, dass eine WM in Deutschland in einer Arena, die 6.000 Plätze bietet, in jeder Session ausverkauft wäre", stellt Hearn klar.
Darts - in Zukunft die beliebtere Version von Golf?
Das ist alles noch Zukunftsmusik, aber klar ist auch, dass sich sehr bald etwas verändern muss hinsichtlich der WM. Die PDC könnte eine Viertelmillion Plätze für die WM verkaufen, verkauft aber nur 90.000 Tickets, weil einfach nicht mehr zur Verfügung stehen. Was also tun? Die nächste WM wird die letzte des aktuellen TV-Vertrages mit Sky in England sein. Der neue Deal wird nicht nur viel teurer werden, er wird auch mit Neuerungen einhergehen.
Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass das Feld von 96 auf 128 Teilnehmer erhöht wird, das würde schon mal acht Sessions und 25.000 Tickets mehr bringen. Aber auch das ist noch nicht genug. Deshalb kann man inzwischen fast davon ausgehen, dass die WM entweder innerhalb des Ally Pally oder sogar innerhalb von London (laut Hearn gibt es großes Interesse von anderen Eventstätten) umziehen wird, um pro Session 6.000 statt 3.000 Fans unterbringen zu können. So legendär die West Hall ist, so viel Historie und Tradition in ihr lebt, so viele Stars sich dafür aussprechen, die WM wird dort nicht auf ewig bleiben können, es funktioniert einfach nicht.
Was sich so oder so aber nicht verändern wird, ist der Charakter von Darts. "Einen Abend beim Darts zu verbringen, ist einfach die pure Freude. Gerade in der Welt, in der wir zurzeit leben, in der Kriege toben, kann Darts ein Zufluchtsort sein. Ein Ort, an dem du Weltklasse-Sport siehst, an dem du aber auch einfach eine gute Zeit mit deinen Freunden hast und mit einem Lächeln aus der Halle gehst."
Wenn es nach Hearn geht, soll Darts eines Tages eine beliebtere Version von Golf werden. Auf der ganzen Welt gespielt, aber vor allem für jeden zugänglich. Es ist egal, wer du bist und woher du kommst, es geht nur darum, wie gut du Pfeile werfen kannst. Stand jetzt ist Darts auf einem guten Weg, dass diese Vision eines Tages tatsächlich Realität werden könnte. Auch und vor allem dank Luke Littler.
sport.de-Kolumnist Florian Regelmann kann auf viele Jahre als leitender Sportredakteur zurückblicken, seit März ist er als Head of US Sports für HEIM:SPIEL tätig.