Es ist DIE Skisprung-Sensation des Jahres: Auf einer atemberaubenden Schneeschanze auf Island fliegt Ryoyu Kobayashi unglaubliche 291 Meter. Was hinter dem PR-Stunt steckt und welche Folgen er für das Skispringen haben könnte.
Der Traum vom Fliegen ist so alt wie die Menschheit selbst, der Traum vom Weltrekord so alt wie das Skispringen. Dass dieser aber an einem 24. April, sprich vier Wochen nach dem eigentlichen Saisonende wahr werden würde, konnte bis zum Tag davor jedoch kaum jemand ahnen. Und dass ausgerechnet Island Schauplatz des Ganzen werden würde, erst recht nicht.
Die Insel ist zwar bekannt für schneereiche und lange Winter, in der über 200-jährigen Geschichte des Skispringens spielte sie jedoch eine Nebenrolle. Der weiteste Sprung auf Island ist mit 63 Metern gemessen worden, bislang ist die Existenz von 18 Schanzen überliefert – das alles ist jedoch mehr als 50 Jahre her.
Umso größer war die Überraschung in der Skisprungszene als am Dienstagnachmittag plötzlich Fotos einer gigantischen Schneeschanze in der Nähe des Skilifts am Hlíðarfjall in Akureyri auftauchten.
Nach einem Bericht des Senders "RUV" war dann klar: Es handelt sich um ein Projekt des Energy-Drink-Riesen Red Bull, in dem der Superstar Ryoyu Kobayashi eine zentrale Rolle spielen würde. Der Japaner und sein Sponsor visierten dabei eine nie dagewesene Dimension im Skifliegen an: 300 Meter und damit fast 50 Meter mehr als der seit 2017 aktuelle Weltrekord von 253,5 Metern.
Zu den unscharfen Fotos gesellte sich rasch auch ein Video, auf dem zu sehen war, wie Kobayashi den monströsen Bakken hinunterflog und auf der Mitte des Hangs landete – bei 256 Metern. Kurz darauf folgte auch die Bestätigung seitens Red Bulls, dass es am Mittwoch den eigentlichen Rekordversuch geben würde.
Kobayashi bereitete sich ein Jahr auf Rekordsprung vor
Der Hunger der Skisprungfans war geweckt: Das wenige Material ging viral und die Sehnsucht nach mehr wuchs von Minute zu Minute. Doch erst am Mittwochabend um kurz nach 17 Uhr gingen die ersten hochqualitativen Aufnahmen online, darunter ein spektakuläres Video einer Drohne, die Kobayashi bei seinem Flug folgte.
Ganze acht Sekunden war der Vierschanzentourneesieger in der Luft und landete schlussendlich bei 291 Metern. Nie zuvor war ein Weltrekord deutlicher übertroffen worden. Und das mit einer Anlaufgeschwindigkeit von 107 km/h, die auch auf den gegenwärtig größten Skiflugschanzen schon erreicht worden war.
"Ich habe lange von diesem Sprung geträumt, weil ich immer weiter springen wollte als es jeder andere zuvor getan hat und ich wollte die Grenzen ausreizen", sagte der 27-Jährige nach seinem Rekordflug, auf den er sich bereits seit einem Jahr vorbereitet hatte. Die körperlichen Grundlagen schuf er in Österreich, an seiner Flugposition und -stabilität tüftelte er im Windtunnel in Stockholm, der in der Skisprungszene zu den beliebtesten überhaupt zählt.
Vor Ort unterstützten ihn sein finnischer Privattrainer Janne Väätäinen und sein norwegischer Servicemann Stian André Skinnes, der via Twitter ein spektakuläres Video des Rekordfluges teilte und dazu schrieb: "Danke, dass du uns diesen Moment gegeben hast. Ich bin so dankbar, dass ich Teil dieser Reise auf Island sein durfte."
"Es waren ein paar verrückte Tage und mir schwirren gerade so viele Gedanken durch den Kopf, aber es war einfach großartig zu sehen, wie die ganze Sache zum Leben erweckt ist. Es war schwer zu wissen, was beim ersten Sprung passieren würde und dann war es eine Achterbahnfahrt der Gefühle", schilderte Väätäinen.
Sein Schützling bekundete, dass seine Motivation auch "aus den Gedanken an all‘ die, die in dieses Projekt involviert waren" entsprang. Zwei Tage lang wurde die nähere Umgebung des Hangs abgesperrt, sodass der Österreicher Bernhard Rupitsch mit seinem Team die Schanze bauen und keine Foto- oder Filmaufnahmen von Unbefugten gemacht werden konnten. Mit einem vorherigen Leak wäre die zweijährige Suche nach dem perfekten Standort ihren Aufwand wohl auch nicht wert gewesen.
Riesenschanzen-Projekt schon über zehn Jahre alt
Neu ist die Idee jedoch nicht: Bereits im März 2010 soll Red Bull eine riesige Schneeschanze gebaut haben, bestätigt wurde dies jedoch nie. Im Jahr darauf erfuhr die Öffentlichkeit jedoch von einem Bauprojekt in Guttal bei Heiligenblut im österreichischen Bundesland Kärnten.
Dort fanden Bauarbeiten statt, welche jedoch ausgesetzt werden mussten, weil die nötige Bewilligung gefehlt hatte. Obwohl diese später erteilt wurde, kam es im Nationalpark Hohe Tauern nie zu einem Event, wie es nun auf Island stattfand und somit auch nicht zu Rekordflügen der damaligen Red-Bull-Athleten Gregor Schlierenzauer und Thomas Morgenstern oder dem ebenfalls gehandelten Robert Kranjec aus Slowenien, der 2012 Skiflug-Weltmeister werden sollte.
An der Reaktion des Ski-Weltverbandes FIS hätte aber auch das Datum des Events nichts geändert. Denn dieser erkennt die Weite nicht offiziell an, weil "das gesamte Projekt auf einen einzelnen Athleten und damit letztlich auf einen einzigen Flug zugeschnitten sind".
Der Verband verwies in seiner Stellungnahme auf die geltenden internationalen Wettkampfregeln, nach denen eine FIS-zertifizierte Weitenmessung und eine homologierte Schanze benutzt werden müssten, was in Akureyri nicht der Fall war. Zudem wurde auch das Material wie Sprunganzug, -schuhe und -ski, die Kobayashi verwendet hatte, wurde vorher nicht einer FIS-Kontrolle unterzogen.
FIS nach PR-Stunt nun zu Regeländerung gezwungen?
Mit seinen insgesamt vier Flügen auf 256, 259, 282 und 291 Meter bewies der 32-malige Weltcupsieger aber, dass sichere Flüge auch jenseits der aktuell geltenden Grenzen möglich sind – und diese könnten nach Jahren des Stillstands im Reglement nun verschoben werden.
Dort heißt es bereits seit 2010, dass der Höhenunterschied zwischen dem Fuß des Schanzentisches und dem Auslauf maximal 135 Meter betragen darf. Auch diese Grenze sprengte die Schanze am Hlíðarfjall deutlich. Zwar übermittelten die Organisatoren nur den Höhenunterschied zwischen dem Beginn des Anlaufs auf 1115 Metern Meereshöhe und dem Auslauf, dieser lag mit 360 Metern jedoch deutlich über dem FIS-Limit.
Bei der Frühjahrssitzung Anfang April wurde bereits über eine Erhöhung der maximalen Höhendifferenz zwischen Schanzentischfuß und Auslauf um fünf, sprich auf 140 Meter diskutiert. Auf der Skiflugschanze in Planica könnte man mit dieser Regeländerung wohl die Marke von 260 Metern attackieren. Auf der Weltrekordschanze in Vikersund gilt dies als ausgeschlossen, da seit einer Profilanpassung im Sommer 2018 nicht mal mehr die 250-Meter-Marke geknackt wurde.
Die Sehnsucht nach einem neuen Weltrekord existiert in der Szene schon länger und obwohl der Getränkegigant in allererster Linie PR für sich und seinen Athleten machen wollte, könnte diese Aktion neuen Schwung in die zuletzt ins Stocken geratene Entwicklung des Skispringens bringen. Eine Entscheidung gegen die besagte Regeländerung ist nun jedenfalls schwer vermittelbar.
Luis Holuch

