Mit dem traditionellen Weltcup-Finale in Planica ging am vergangenen Wochenende die Skisprung-Saison zu Ende. sport.de-Experte und TV-Kommentator Luis Holuch zieht Bilanz und diagnostiziert einen Leistungsabfall bei den Deutschen, eine Dauerkrise bei den Polen und entdeckt frisches Blut bei den überragenden Österreichern.
Wer sich am vergangenen Wochenende das Weltcup-Finale in Planica angeschaut hat, konnte durchaus den Eindruck gewinnen, dass für manche Beteiligte die Skisprung-Saison ein Stückchen zu lang war.
Und obwohl DSV-Bundestrainer Stefan Horngacher sein Saisonfazit nur auf seine Mannschaft bezog, ließen sich Parallelen zum gesamten Tross ziehen: "Wenn man bedenkt, wo wir am Ende der letzten Saison standen, haben wir uns deutlich verbessert. Die erste Hälfte der Saison war sehr stark, hintenraus ist uns das Gas ausgegangen. Daraus müssen wir unsere Lehren ziehen."
Belegen lässt sich das auch mit einer einzigen Statistik: Die letzten neun Weltcup-Springen endeten ohne einen deutschen Skispringer auf dem Podest. Entsprechend ist man sich beim Befund Leistungsabfall in der zweiten Saisonhälfte einig, einzig der Ursprung ist aktuell noch ein Mysterium.
Über jeden Zweifel erhaben war jedoch definitiv Andreas Wellinger. Alleine schon deshalb, weil er es als Einziger der insgesamt 67 Punktesammler im Weltcup schaffte, in jedem der 32 Einzelspringen in den besten 30 und damit in den Punkterängen zu landen.
Elf Mal stand der Gesamtweltcupdritte auf dem Podest, feierte beim Tournee-Auftakt in Oberstdorf und im Februar in Willingen zwei Heimsiege in ausverkauften Arenen. Diese "geilen Momente" wie auch seine Silbermedaille bei der Skiflug-WM krönten seine erfolgreiche Mission: "Ich habe mir vorgenommen, den ganzen Winter über auf einem extrem hohen Niveau Ski zu springen und das ist mir gelungen."
Skispringen: Karl Geiger wird zum Fragezeichen
Neben Wellinger sprang auch Pius Paschke die Saison seines Lebens. Angesichts seiner inzwischen 33 Jahre hätte wohl niemand noch daran geglaubt, dass er Gesamtweltcup-Zehnter werden würde, oder aufs Podest oder sogar zu einem Sieg springen würde.
Doch genau das gelang ihm: Platz zwei beim Saisonauftakt in Ruka und dann auch noch der Sieg in Engelberg machten ihn zur Sensation der ersten Winterhälfte. "Ich hoffe, dass das nicht die letzten Erfahrungen dieser Art für mich waren", sagte er beim Saisonfinale. Wohlwissend, wo er herkam: Nämlich aus dem Continental-Cup. Wie auch Stephan Leyhe, der gemeinsam mit ihm in Ruka auf dem Podium stand.
Sowohl Leyhe als auch Paschke waren nach einer schwachen Vorsaison aus Horngachers Trainingsgruppe 1a in die 1b versetzt worden, für die seit dem Sommer Ronny Hornschuh verantwortlich ist und gerade im Sommer einen guten Job machte, sonst hätten es die beiden Routiniers nicht zurück ins Weltcup-Team geschafft.
Während sich zwei erfahrene Springer also rehabilitierten, wurde Karl Geiger im Saisonverlauf ein immer größeres Fragezeichen. Nach seinen beiden Siegen in Klingenthal galt er noch als Kandidat auf einen Erfolg bei der Vierschanzentournee, brach dagegen nach der Bronzemedaille mit der Mannschaft bei der Skiflug-WM am Kulm ein.
Ganze acht Mal verpasste er in der zweiten Saisonhälfte sogar die Weltcuppunkte und gestand: "Die letzten drei Monate waren nicht so, wie ich mir das erhofft habe." Auch in seinem Fall gilt: Befund eindeutig, Ursache (noch) ungeklärt.
Der Jüngste im Team, Philipp Raimund, geht hingegen völlig mit sich im Reinen in die Frühlingspause. Besser als im Vorwinter wollte er sein, dazu seine ersten Top-Ten-Plätze erzielen. Beides übererfüllte der 23-Jährige sogar: Als 20. wurde er viertbester Deutscher im Gesamtweltcup, als Zweiter in Lake Placid der fünfte Deutsche, der im Winter aufs Podest sprang. Aufs Weltcup-Finale in Planica verzichtete er freiwillig. Die legendäre wie furchteinflößende Letalnica wollte er sich mit leerem Akku nicht antun.
Sein Verzicht wäre die Chance für Markus Eisenbichler gewesen, doch auch der lehnte dankend ab. Zu gut war das Gefühl seines Saisonendspurts im Continental-Cup, in dem er fünf Mal aufs Podium sprang und zwei Springen gewann. Mit genau diesem guten Gefühl will er in der neuen Saison angreifen und wieder für sportliche Schlagzeilen sorgen, die man eigentlich von ihm kennt, nachdem es heuer zu keinem Weltcup-Einsatz reichte.
Polens Skispringer enttäuschen - mit einer Ausnahme
Die größte Enttäuschung der Saison ist zweifellos das polnische Team. Die Schützlinge von Thomas Thurnbichler belegten am Ende gerade einmal Rang sechs im Nationencup und sammelten dabei nicht einmal halb so viele Punkte wie die Norweger auf Rang vier, die mit der Revolte gegen Cheftrainer Alexander Stöckl für die Seifenoper der Saison sorgten, die Potenzial für eine Netflix-Serie hat.
Während Kamil Stoch und Dawid Kubacki in alte technische Fehler zurückfielen und im Saisonverlauf auch öffentlich ihre Unzufriedenheit mit Thurnbichler und dessen inzwischen geschassten Ex-Assistenten Marc Nölke ausdrückten, sorgte einzig Aleksander Zniczczoł für Erfolgserlebnisse.
Seine dritten Plätze in Lahti und Planica waren das Ergebnis von harter Arbeit und Überwindung von Selbstzweifeln. Denn ehe er erstmals auf dem Podium landen sollte, vergab er zuvor bereits fünf Chancen.
"Bei ihm stellte sich die Frage, wo der Weg noch hinführen sollte. Immerhin macht er bald die 30 Jahre voll und galt lange als uneingelöstes Versprechen, das seine Ergebnisse aus dem Junioren- nicht in den Erwachsenenbereich übertragen konnte", berichtete Michał Chmielewski beim Weltcup-Finale in Planica im Gespräch mit sport.de.
Chmielewski begleitet die Polen als Moderator und Reporter für "TVP Sport" bereits seit Jahren und zog eine Parallele zur Karriere eines Springers, der vor einem Jahr zurücktrat: "Zniczczoł war auf dem besten Weg, die gleiche Laufbahn zu nehmen wie Stefan Hula. Auch der hatte mehrfach die Chance auf ein Podium, wie bei Olympia 2018. Doch Olek gelang das nun."
Und trotz dieses Lichtblicks ist man sich in Polen einig: Es braucht frisches Blut, je schneller desto besser. Denn obwohl das Durchschnittsalter in der Weltspitze des Männer-Skispringens ansteigt und Methusalem Noriaki Kasai im stolzen Alter von 51 Jahren immer noch Punkte holt, tickt für die skisprungverrückteste Nation die biologische Uhr unweigerlich.
Skispringen: Ende der österreichischen Dominanz nicht absehbar
Die einzige Nation, die das Gegenmittel schon hat, ist Österreich. Neben dem Dominator der Saison Stefan Kraft und Skiflug-Weltcupsieger Daniel Huber landeten vier weitere Athleten unter den besten 15 der Gesamtwertung. Mit über 3000 Punkten Vorsprung gewannen die Adler von Cheftrainer Andreas Widhölzl zudem überlegen die Nationenwertung. Ein Ende dieser Dominanz ist angesichts dieser Breite im Team nicht absehbar.
Und im Gegensatz zu den alternden Polen haben sie mit Springern wie Junioren-Weltmeister Stephan Embacher, der in seinen ersten sechs Weltcupspringen drei Mal 13. und sogar ein Mal Zehnter wurde, schon den nächsten potenziellen Superstar herangeführt.
Dem 18-Jährigen ist allemal zuzutrauen, dass er früher oder später auf den Pfaden Krafts oder seines ärgsten Verfolgers Ryoyu Kobayashi wandelt, der ebenfalls eine außergewöhnliche Saison gesprungen ist. Mit vier zweiten Plätzen, die ihm zum Gesamtsieg reichten, wurde er seinem Ruf als Vierschanzentournee-Spezialist einmal mehr gerecht. Mit zehn zweiten Plätzen insgesamt wurde er folgerichtig auch Zweiter im Gesamtweltcup.
Den Gesamtweltcup, die Tournee und Olympia-Gold hat er schon gewonnen – fehlt nur noch WM-Gold. Genau darauf hat er in Trondheim im nächsten Winter beste Chancen, schließlich sprang er auf der neuen Normalschanze zum Sieg und Schanzenrekord.
Genau darauf werden Kobayashi und freilich auch dessen Konkurrenten mit Start der Vorbereitung Ende April alles ausrichten. Denn Skispringen ist längst Ganzjahressport und verlangt somit Ganzjahresprofessionalität, gerade in Jahren mit Großereignissen.
Luis Holuch