Ein Mal fast Weltrekord, eine unsanfte Landung und dann ein gestandener Weltrekord: Silje Opseth erlebte bei der Weltcup-Premiere des Skifliegens der Frauen in Vikersund innerhalb von 90 Minuten mehr als manch anderer in einer ganzen Saison. Die Norwegerin nahm sport.de mit in ihre Gefühlswelt.
So wie ein gestürzter Reiter schnellstmöglich wieder aufs Pferd sollte, so schnell wollen auch Skispringerinnen und Skispringer nach einem Sturz auf die Schanze, damit sich das Negativerlebnis nicht zu breit im Kopf macht. Genau so erging es auch Silje Opseth aus Norwegen am Sonntag in Vikersund.
Die begnadete Fliegerin aus Norwegen hatte beim ersten Skifliegen der Frauen im vergangenen Jahr am selben Ort Rang zwei belegt und galt als Mitfavoritin auf den Sieg bei der Weltcup-Premiere, die an diesem 17. März 2024 steigen sollte.
Was um kurz vor halb 10 bereits im Probedurchgang passieren sollte, war jedoch so nicht absehbar. Mit 105,1 km/h sauste die 24-Jährige die Anlaufspur des "Monsterbakken" hinunter, stürzte sich in unnachahmlicher Manier vom Schanzentisch und glitt den ewig langen Hang hinunter. Erst bei 236,5 Metern berührten ihre Ski den Schnee – neuer Weltrekord!
So dachten alle, auch die Springerin selbst. Bis sie die Balance verlor, nach vorne fiel und unsanft mit dem Gesicht voraus im Schnee landete. Der Weltrekord war futsch, die Vorfreude auf den Wettkampf bei allen Anwesenden an der Schanze auch. Stattdessen herrschte kurz gespenstische Stille und Ungewissheit, bis Opseth sich aufrappelte und lächelnd in die Runde winkte.
Opseth trotzt dem Schock des Sturzes
"Das war wirklich crazy, es ging alles so schnell. Ich wusste gar nicht, warum ich plötzlich auf dem Boden lag, aber mein erster Gedanke war: 'Jetzt muss ich schnell hoch, der Wettkampf geht gleich los'", schilderte die Norwegerin im Gespräch mit sport.de.
Während sie gedanklich schon wieder fast eine Stunde weiter, nämlich beim Wettkampf war, atmeten Trainer, Betreuer und Beobachter durch. Doch mit einem breiten Grinsen, das ihre offenen Wunden im Gesicht fast schon verdrängte, eilte Opseth wieder zum Lift und trat ihren Dienst zum zweiten Mal an.
"Die Wunden im Gesicht sieht man ja leider", schmunzelte sie und offenbarte zudem: "Inzwischen tut mir mein Knöchel auch etwas weh, das habe ich vor lauter Adrenalin gar nicht gespürt. Das wurde mir erst bewusst, als ich versucht habe, die Schlaufe meines Anzugs unter meinen Fuß zu ziehen und es nicht so ging wie gewohnt. Da habe ich einen ganz kurzen Moment gezweifelt, ob ich so wirklich fliegen kann. Aber irgendwie wird es schon gehen, dachte ich mir."
Unglaublicher Flug im zweiten Durchgang
Und es ging: Um kurz nach 10 flog Silje Opseth, diesmal mit "nur" 102,8 km/h Anlaufgeschwindigkeit auf 203 Meter, was mit dieser Vorgeschichte mehr als bemerkenswert war.
Wiederum nur eine Dreiviertelstunde später war sie dann im zweiten Durchgang an der Reihe. Dieser verlief bis dato äußerst unspektakulär. Die Jury agierte nach Opseths Sturz getreu dem Motto "Safety first" und gaben den Athletinnen weniger Anlauf als zuvor, sodass einzig die Slowenin Ema Klinec die magische Marke von 200 Metern überflogen hatte.
Für Klinec bedeuteten die Ereignisse des Tages, dass sie Rang drei in diesem Wettkampf sicher hatte und auch den Weltrekord von 226 Metern behalten durfte, schließlich hatte sie diesen im Vorjahr gestanden.
Doch der nächste Plot Twist sollte folgen: Kompromisslos ging die norwegische Beinahe-Weltrekordhalterin zu Werke und landete bei 230,5 Metern – und das diesmal sicher. Klinec' Weltrekord war Geschichte, Opseth nun an der Spitze der Weitenjägerinnen-Charts.
"Gesichtsbremse" sorgt für mehr Adrenalin
Dass dieser Flug sechs Meter kürzer als ihr weitester war, tat ihren Glücksgefühlen jedoch keinen Abbruch, sagte sie sport.de: "Der letzte Flug hat genauso viel Spaß gemacht, ich nehme sehr viele gute Erinnerungen mit nach Hause."
Innerhalb von 90 Minuten hatte sie also einen Fast-Weltrekord aufgestellt, eine schmerzhafte Begegnung mit ihrem Lieblingselement Schnee gehabt und sich "ihren" Weltrekord doch noch geholt.
Das Einzige, was ihr fehlte: Gewissheit darüber, was ihr eigentlich am frühen Morgen widerfahren war. "Ich habe immer noch keine Ahnung, ob ich einen Fehler gemacht habe. Ich weiß nur, dass der Schnee unten im Radius etwas klebrig war.", sagte sie schulterzuckend.
Schlussendlich hatte die "Gesichtsbremse", wie sie im Skisprung-Jargon gerne genannt wird, mitsamt der kurzen Wartezeit ihr Gutes: "In dem Sinne hat es mir sogar geholfen, dass so wenig Zeit hatte und gar nicht groß drüber nachdenken konnte. Und mit längerer Wartezeit wäre auch das Adrenalin schneller aus meinem Körper gewesen und dann wäre ich sicher nicht so geflogen."
Luis Holuch



