Mit Gabriel Clemens, Martin Schindler, Ricardo Pietreczko, Florian Hempel und Dragutin Horvat treten dieses Mal gleich fünf deutsche Teilnehmer bei der Darts-WM an. Wer hat die besten Chancen, sich bei der 2024er Ausgabe des großen PDC-Turniers durchzusetzen?
sport.de-Experte Florian Regelmann hat Clemens, Schindler und Co. in Zusammenarbeit mit DAZN-Darts-Kommentator Adrian Geiler genauer unter die Lupe genommen. Hier ist das Ergebnis:
- Gabriel Clemens (PDC Order of Merit: 22)
Gabriel Clemens geht erneut als deutsche Nummer eins in die WM, aber was ist dem "German Giant" ein Jahr nach seinem sensationellen Halbfinal-Run dieses Mal zuzutrauen? Bevor Clemens bei der WM-Generalprobe bei den Players Championship Finals in starker Manier das Halbfinale erreichte, wäre die Antwort gewesen: eher wenig. Gaga spielte zwar kein schlechtes Jahr 2023, sein Scoring war sogar über weite Strecken gut (94.23 Jahresaverage), aber gerade bei den großen Turnieren machte er sich mit einer miserablen Doppel-Quote immer wieder alles kaputt.
Bis er jetzt seinen größten Major-Erfolg seit der letzten WM feierte und allen zeigte: Trifft Clemens die Doppel, dann ist er auf jeden Fall ein Top-16-Spieler in der Welt, der auch das Niveau hat, bei der WM erneut weit zu kommen.
Das Problem des 40-Jährigen: Selbst wenn er nach seinem Befreiungsschlag gestärkt in den Ally Pally kommt, könnte ihm ein frühes Aus drohen. Clemens bekommt es in Runde zwei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit Gian van Veen zu tun.
vs. van Veen - ein Match, das in der frühen Phase der WM eines der absoluten Highlights werden könnte. Die 21-jährige 180er-Maschine (647 Stück im Jahr 2023!) aus den Niederlanden ist ein kommender Superstar der Szene. Clemens kann richtig gut spielen und sich trotzdem ganz früh von der WM verabschieden. Auf der anderen Seite könnte ein Sieg gegen van Veen auch die Initialzündung dafür sein, dass Clemens danach mindestens Richtung Viertelfinale schielen könnte.
Adrian Geiler: "Wäre es Fußball, wäre Gaga in diesem Jahr eine Mannschaft gewesen, die einen extrem hohen Expected-Goals-Wert hat, aber einfach zu wenige Tore schießt. Seine Werte sind eigentlich alle nach oben gegangen, bis auf die Doppel-Quote. Bei den Players Championship Finals haben wir jetzt gesehen, wie stark er ist, wenn die Doppel laufen. Dann gehört er sofort in die Top 16. Die Auslosung ist natürlich nicht gut, aber ich glaube schon, dass er auch van Veen im Griff haben kann. Gaga hatte jetzt eine tolle Präsenz auf der Bühne. So ein Match wie gegen Luke Woodhouse im Viertelfinale war prädestiniert dafür, dass es schiefgeht. Ist es aber nicht, weil er das ganz stark gelöst hat. Ich traue ihm viel zu bei der WM."
- Martin Schindler (PDC Order of Merit: 26)
Schindler befindet sich in einer ganz ähnlichen Situation wie Clemens. "The Wall" hat sich in den Top 32 der Welt etabliert und sein (Scoring)-Potenzial schon so oft gezeigt, dass man sich die Frage stellt: Wann kommt der nächste Schritt in Richtung Top 16? Wann kommt endlich der erste so ersehnte Turniersieg? Dass sowohl Clemens als auch Schindler immer noch auf ihren ersten Titel warten müssen, ist angesichts dessen, welche No-Names auf der Pro Tour sonst schon alle Titel eingefahren haben, nahezu grotesk.
Schindler hat ein interessantes Jahr hinter sich. Ein Jahr, das einerseits große Ausschläge nach oben hatte. So erreichte der 27-Jähriger als erster Deutscher Major-Viertelfinals bei den UK Open und beim World Grand Prix, dazu verbuchte er sein erstes Halbfinale auf der European Tour. Die negative Seite: Schindlers Siegquote (56.52%) war in diesem Jahr so schlecht wie seit 2020 nicht mehr. Und ähnlich wie bei Clemens ist der Grund leicht auszumachen: die Schwäche auf Doppel (aufs Jahr nur 38%).
Schindler verliert noch zu viele Matches, die er eigentlich gewinnen müsste. Beim World Match Play verlor er zum Auftakt unnötig gegen Danny Noppert, genau gegen diesen Danny Noppert könnte es bei der WM in Runde drei wieder gehen, sollte Schindler seine machbare erste Aufgabe (Jermaine Wattimena oder Fallon Sherrock) lösen. Und genau diese Matches muss Schindler anfangen, zu gewinnen, wenn er den erhofften Schritt in die Top 16 schaffen will.
Adrian Geiler: "Wir dürfen bei Martin nicht vergessen, dass er 2021 noch die Tourkarte verlor. Dass er erst im letzten Jahr überhaupt sein erstes Spiel bei der WM gewann, ehe er nach 3:1-Führung am Bully Boy gescheitert ist. Ihm fehlt so ein bisschen der Befreiungsschlag, der Clemens jetzt gelungen ist, aber ich finde, er kann mit dem Jahr trotzdem zufrieden sein. Es ist ein Stabilisierungsjahr auf hohem Niveau. Martin hat einen extrem hohen Floor, er spielt ganz selten unter 93, 94 Punkten im Schnitt (Jahresaverage: 94.26) und wenn sein Power-Scoring da ist, macht es unglaublich viel Spaß, ihm zuzuschauen. Noppert wandelt auch manchmal zwischen Himmel und Hölle, ich bin zwar Fan von seinem Spiel, aber Martin kann ihn definitiv auch schlagen. Er kann da auch ganz befreit reingehen meiner Meinung nach, er muss niemandem etwas beweisen, dafür war das Jahr zu gut."
- Ricardo Pietreczko (PDC Order of Merit: 39)
Wer wird der zweite Deutsche nach Max Hopp, der bei der PDC einen Turniersieg einfährt? Ricardo Pietreczko! Diesen Tipp hätte vor einem Jahr nicht mal Pietreczko selbst abgegeben. Denn vor einem Jahr überlegte der deutsche Shootingstar noch, ob er seine Tourkarte abgeben sollte, weil er die Freude am Darts verloren hatte. “Pikachu” machte weiter, überzeugte regelmäßig mit guten Ergebnissen auf der Pro Tour und feierte seinen großen Durchbruch im Oktober mit seinem unerwarteten Triumph beim European-Tour-Event in Hildesheim.
Und es war nicht nur der Titel an sich, der beeindruckte. Pietreczko besiegte im Halbfinale Michael van Gerwen nach dem besten Leg in der deutschen Darts-Geschichte (10-Darter im Decider zum 7:6) und ließ sich im Finale auch von Peter Wright nicht mehr stoppen. Der 29-Jährige ist vor allem deshalb so gefährlich, weil kaum jemand auf der Tour so gut checkt wie er (Platz 6 in puncto Doppel-Quote mit über 42%).
Pietreczko hat 2023 allerdings auch mehr als deutlich seine verwundbare Seite gezeigt. Im September verspielte er in Ungarn durch eine völlig unerklärliche Niederlage gegen den Lokalmatadoren Nandor Major seine Teilnahme am World Grand Prix, weil er sich mit den Fans anlegte. Und beim Grand Slam of Darts wurde es sogar noch schlimmer, als Pietreczko gegen Beau Greaves verlor und wieder an den Zuschauern scheiterte. Und zu allem Überfluss noch sehr unsouverän reagierte.
Da der Darts-Gott offenbar Humor hat, wollte es die Auslosung jetzt so, dass Pietreczko in Runde eins bei der WM natürlich erneut auf eine Frau trifft (Mikuru Suzuki) und damit logischerweise und nach seinem Verhalten erst recht die Fans gegen sich haben wird … Man sollte das Popcorn schon mal bereit legen.
Adrian Geiler: "Eat, sleep, darts, repeat. Das beschreibt Ricardo Pietreczko am besten. Pikachu liebt Darts, Pikachu lebt für Darts. Er hatte gerade Hildesheim gewonnen, aber es hätte niemanden überrascht, wenn er am nächsten Tag schon wieder ein E-Dart-Turnier irgendwo in Mittelfranken gespielt hätte. Aber wenn ihm die Freude genommen wird, wie jetzt mehrfach gesehen durch das Publikum, dann ist er total verwundbar. Ich bin mir aber sicher, dass er die richtigen Schlüsse daraus gezogen hat und dass ihm das nicht nochmal passieren wird. Dazu kommt, dass Mikuru Suzuki einfach nicht so stark ist wie Beau Greaves, das muss er gewinnen. Ich wünsche mir ein Drittrunden-Match gegen Luke Humphries. Und ich kann Euch sagen, Luke wird das nicht gefallen haben, dass er auf Pikachu treffen könnte, weil er weiß, dass der ihm gefährlich werden kann. Das haben wir auf der European Tour auch schon gesehen."
- Florian Hempel (PDC Order of Merit: 59)
Sport ist Wahnsinn. Darts ist Wahnsinn. Da steht Hempel beim letzten WM-Quali-Turnier in der ersten Runde gegen Luc Peters am Board und muss zuschauen, wie der Niederländer einen Matchdart nach dem anderen hat. Und Hempel weiß genau: Trifft Peters, war es das für ihn. Eine Niederlage würde nicht nur das Aus für die WM bedeuten, auch der endgültige Verlust der Tourkarte wäre besiegelt. Aber Peters trifft nicht. Und wieder nicht. Und wieder nicht.
Hempel “überlebt” das Match, sichert sich danach in absolut beeindruckender Art und Weise auf den letzten Drücker das WM-Ticket und plötzlich sieht seine Darts-Welt wieder ganz anders aus. Und Hempel hat sich damit auch für seine harte Arbeit am Practice Board belohnt.
Nach einem verflucht komplizierten Jahr, in dem lange wenig zusammenläuft (Jahresaverage unter 89), kommt Hempel seit der zweiten Jahreshälfte immer besser in Form. Wenn man nur die letzten Monate anschaut, liegt Hempel zum Beispiel in puncto "First 9 Average" in den Top 32 der Welt. Die späte WM-Quali kommt so gesehen nicht überraschend, bei aller Freude darüber bleibt Hempels Situation aber schwierig.
Will der 33-Jährige seine Tourkarte behalten, muss er mindestens sein Auftaktmatch gegen Dylan Slevin gewinnen. Das ist zwar sicherlich machbar, aber es ist gut möglich, dass selbst das nicht reicht und Hempel dann auch noch in Runde zwei Dimitri van den Bergh aus dem Weg räumen müsste. Nun ist der “Dreammaker” zwar seit einiger Zeit nicht in Topform, dennoch bleibt es natürlich eine wahnsinnig harte Aufgabe unter allerhöchstem Druck. Aber wenn es jemand schaffen kann, dann vielleicht dieser Flo Hempel…
Adrian Geiler: "Für mich ist Flo Hempel einer der mental stärksten Spieler auf der Tour. Ich glaube, da hilft ihm einfach sein Leistungssport-Background aus dem Handball von früher, das sagt er auch immer wieder selbst. Das gibt ihm eine große Stärke, in Drucksituationen zu performen. Sein zweites Halbjahr ist wirklich top, leider hatte er da auf der Pro Tour auch viel Pech mit den Auslosungen, sodass sich seine guten Leistungen nicht immer in den Ergebnissen widergespiegelt haben. Er hat lange damit gehadert, dass am Practice Board alles klappt und er es einfach nicht ins Match übertragen bekommt, das hat er jetzt geschafft. Ich finde es beeindruckend, wie er immer wieder die Motivation findet, um dranzubleiben und wünsche ihm sehr, dass er die Tourkarte behält."
- Dragutin Horvat (PDC Order of Merit: 164)
Zum ersten Mal in der Geschichte sind fünf Deutsche bei der WM am Start - und es hätten so leicht sechs sein können. Shoutout an dieser Stelle an Pascal Rupprecht, denn diesen Namen muss man sich merken. Der 23-Jährige stand in den letzten Monaten zweimal kurz vor dem WM-Ticket. Er verlor beim letzten Quali-Event herzzerreißend im entscheidenden Match 6:7 gegen den Kroaten Boris Krcmar und zuvor hatte Rupprecht bei der Super League das Finale gegen Dragutin Horvat verloren.
So darf Horvat nach seinem Debüt 2017 (Niederlage gegen Simon Whitlock) sieben Jahre später zum zweiten Mal in den Ally Pally und es gibt wohl niemanden in der deutschen Darts-Szene, der es "Herkules" nicht gönnt. Der 47-Jährige ist aber nicht nur der ultra-sympathische Hobbyspieler, der als Lagerist arbeit und nach der WM-Quali seinen Chef erstmal um Sonderurlaub fragen musste, er ist vor allem ein verdammt guter Spieler, dessen Quali überhaupt nicht überraschend kommt.
Horvat hat nämlich ein überragendes Jahr auf der Challenge Tour hinter sich. Zur Einordnung: Dort tummeln sich alle Spieler, die keine Tourkarte besitzen, das Niveau ist hoch. Wenn man da wie Horvat am Ende im Ranking in den Top 10 landet und sich so nebenbei schon für die UK Open 2024 qualifiziert hat, dann muss man schon einiges drauf haben.
Horvat geht als Außenseiter in sein Auftaktmatch gegen den Belgier Mike De Decker (kann überragend spielen, kann aber auch nichts treffen), aber er ist ganz sicher nicht chancenlos. De Decker, Madars Razma in Runde zwei… wer weiß, was da alles möglich ist… es sollte sich auf jeden Fall niemand wundern, wenn Horvat bei der WM ein bisschen für Furore sorgen wird…
Adrian Geiler: "Es gibt ja so Matches, die einen Spieler brechen können. Brazzo hatte so ein Match 2022, als er in der Qualifying School die Tourkarte vor Augen hatte und gegen Tony Martinez zwölf Matchdarts vergab. Zwölf! Wie er das verkraftet hat, mit wie viel Energie und Power er in diesem Jahr die Challenge Tour gespielt und dann die Super League gewonnen hat, das ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Ich freue mich schon darauf, zu sehen, wie die ersten Darts von ihm kommen. Wenn die kommen, wenn er da gleich mal eine 180 auspackt, dann wissen wir, der gute Dragutin ist da und dann wird er uns Spaß machen."