Joséphine Pagnier sorgte in Lillehammer für die erste große Überraschung der noch jungen Skisprung-Saison: Mit ihrem ersten Weltcup-Sieg sprang die Französin ins Gelbe Trikot der Gesamtführenden. Im Exklusiv-Interview mit sport.de spricht sie über diesen Erfolg und ihre besondere Bindung zum Skispringen. Zudem blickt sie auf das voraus, was sie im Rest des Winters erwartet.
Trotz ihres immer noch jungen Alters von 21 Jahren ist Joséphine Pagnier längst kein neues Gesicht mehr im Skisprung-Weltcup. Das liegt zum einen daran, dass sie bis zum vergangenen Wochenende bereits 85 Starts auf dem Konto hatte und zum anderen daran, dass sie in den letzten beiden Saisons zu den Top 20 der Welt gehörte.
Auf dem Siegertreppchen sah man die Französin bis dato aber lediglich ein Mal: Am 27. Februar 2022 sprang sie in Hinzenbach auf Rang drei. Etwas mehr als eineinhalb Jahre später feierte sie in Lillehammer jüngst ihr zweites Podium und tags darauf auch noch ihren ersten Weltcup-Sieg, der ihr die Gesamtführung bescherte.
Damit gelang der Frau aus Chaux-Neuve ein absolutes Novum, denn in über 40 Jahren Männer- und nun zwölf Jahren Frauen-Weltcup war das Gelbe Trikot noch nie in Besitz eines Franzosen oder einer Französin. Im Exklusiv-Interview mit sport.de spricht sie über diesen Erfolg.
Joséphine, was macht eine frisch gebackene Weltcupsiegerin in der Woche nach ihrem ersten Triumph?
Joséphine Pagnier: Ich habe erst zwei Tage nach dem Sieg die Reise nach Hause angetreten und war erst am Mittwoch zuhause. Seitdem habe ich viel Zeit draußen verbracht. Ich war langlaufen und habe die Sonne und bei ein paar Tassen Tee die Zeit mit der Familie genossen.
Anfragen von Medien tauchten in Ihrer Aufzählung nicht auf. Wie verhielt es sich damit?
Ein paar Anfragen und Interviews gab es schon auch, wie zum Beispiel von der "L’Équipe". Das ist natürlich großartig, wenn die größte Zeitung dich plötzlich kontaktiert, weil sie bemerkt, was passiert ist.
Wie lange haben Sie denn gebraucht, zu begreifen, dass Sie Ihr erstes Weltcup-Springen gewonnen haben?
Um ehrlich zu sein, dauert das immer noch an (lacht). Es waren insgesamt an dem Wochenende sehr viele Emotionen, nicht nur für mich, sondern auch um mich herum. Aber es fühlt sich großartig an, das geschafft zu haben. Darauf bin ich auch sehr stolz.
Sie sind am Samstag bereits Zweite geworden, was auch erst Ihr zweites Weltcup-Podium war. Hat es Sie überrascht, wie stark Ihr Leistungslevel ist im Vergleich zur Konkurrenz?
Ja, sehr sogar. Ich hatte in den Tagen und Wochen zuvor ein paar Schwierigkeiten, nachdem es im Sommer eigentlich ganz gut für mich lief. Die letzten zwei Wochen vor Lillehammer liefen alles andere als ideal. Deswegen tat es sehr gut, dass ich es geschafft habe, mit vollem Fokus und einem guten Gefühl bei der Sache zu sein.
Es fühlte sich sogar so an, als ob das meine letzten Sprünge wären. Ich hatte einfach nichts zu verlieren, selbst nach Samstag nicht. Wenn ich am Sonntag 20. oder 25. geworden wäre, wäre das auch in Ordnung für mich gewesen, solange ich diese Sprünge so angegangen wäre, wie wenn es meine letzten gewesen wären.
Am Sonntag lagen Sie dann nach dem ersten Durchgang in Führung. Wie war es in dieser Situation um Ihre Nerven bestellt? Haben Sie da an den Sieg gedacht?
Nein, gar nicht. Ich hatte diese Situation, wo ich an den Sieg gedacht habe, ein Mal zuvor in meinem Leben und habe diese Denkweise danach ad acta gelegt. Ich habe einfach versucht, vor beiden Sprüngen mir zu bleiben. Ich war mit den Gedanken gar nicht beim Wettkampf, sondern bei meinem Sprung und wollte einfach versuchen, diesen so auf die Schanze zu bringen, wie ich es mir vorstelle.
Danach hat es sich im ersten Moment dann komisch angefühlt, das muss ich zugeben. Einfach, weil ich nur ganz normal gesprungen bin und dann auf das Resultat geschaut habe. Der Sieg kam sehr unerwartet, das habe ich mir vorher nicht vorstellen können.
Sie sind erst die zweite Französin, die ein Weltcup-Springen gewinnt und die Erste, die das Gelbe Trikot trägt. Was bedeutet Ihnen das?
Aus Statistiken mache ich mir nichts, so ehrlich bin ich. Aber ein Springen zu gewinnen und ein Mal dieses Trikot zu tragen waren meine größten Ziele. Das jetzt erreicht zu haben war sehr emotional für mich und mein Umfeld. Wir haben sehr viele Jahre dafür gearbeitet und es fühlte sich einfach gut an, das geschafft zu haben.
Dabei gab es ja im unmittelbaren Vorfeld das ein oder andere Hindernis, was die Vorbereitung betroffen hat …
Ja, das stimmt. Wir waren schon in der Woche vor dem Weltcup-Auftakt in Lillehammer und wollten dann nochmal nach Hause. Dann hatte sich aber die Ehefrau von unserem Trainer Damien Maitre mit Covid-19 infiziert und wir haben überlegt, wie wir damit umgehen. Er schlug dann vor, einfach in Lillehammer zu bleiben. Das hat uns dann die Reiserei erspart und auch die Müdigkeit, die man sonst danach hat.
Ich muss trotzdem sagen, dass ich bis zum ersten offiziellen Sprung recht angespannt war. Mit diesem Sprung war ich voll bei der Sache, aber vorher musste ich meinen Kopf sehr anstrengen, um die Kontrolle über meinen Sprung zu behalten.
Pagnier hofft auf baldige Vierschanzentournee für Frauen
An diesem Wochenende stehen keine Wettkämpfe für die Skispringerinnen an. Wären Sie gerne sofort wieder gesprungen?
Ja, ich wäre wirklich lieber in Klingenthal gewesen, wo an diesem Wochenende nur die Männer springen. Aber das geht leider nicht. Somit fahren wir zu einem Camp nach Courchevel, um dort auf Schnee zu trainieren. Wir freuen uns dann umso mehr auf Engelberg am übernächsten Wochenende.
Dort findet erstmals ein Weltcup statt und man kann auf dieser Schanze nicht trainieren. Wie bereiten Sie sich darauf vor?
Ich muss gar nicht viel anders machen als sonst. Die Dinge, die ich abrufen muss, sind dieselben – egal, auf welcher Schanze man springt und ob man sie kennt oder nicht. Wenn ich meinen Körper und meinen Bewegungsablauf im Griff habe, funktioniert mein Sprung überall.
Nach Weihnachten stehen dann Springen in Garmisch-Partenkirchen und Oberstdorf an. Diese TwoNightsTour soll ein Schritt in Richtung einer Vierschanzentournee auch für die Frauen sein. Wie stehen Sie zu dieser Thematik?
Ich hoffe sehr, dass auch wir nächstes Jahr in Österreich springen können, also in Innsbruck und Bischofshofen. Unabhängig davon ist es aber schön zu sehen, wie sich das Frauen-Skispringen weiterentwickelt und was die Veranstalter und die FIS für uns tun. So wie zum Beispiel das Skifliegen in Vikersund im März.
Dort hatten wir unser letztes Interview und Sie meinten, dass Ihnen dieses Erlebnis einen großen Kick gibt, obwohl Sie mit Ihrer Leistung nicht zufrieden waren. Woher kommt dieser Drang nach Adrenalin?
Um ehrlich zu sein, weiß ich das gar nicht (lacht). Ich weiß nicht, was in meinem Hirn vor sich geht, aber ich war schon immer so. Es scheint also genetisch bedingt zu sein, auch wenn ich es nicht erklären kann.
Daran mussten Sie in der Vorbereitung also nicht arbeiten. Wo haben Sie bei sich noch Baustellen ausfindig gemacht?
Ich arbeite jetzt seit fünf Jahren mit Damien Maitre zusammen. Damals war ich auch schon eine gute Skispringerin, bin aber nur nach Instinkt gesprungen. Ich habe nicht professionell gearbeitet. In der Zwischenzeit haben wir viel an meiner Anlaufposition und meinem Absprungverhalten gearbeitet. Und das tun wir immer noch. Das steht in der täglichen Trainingsarbeit im Vordergrund.
Was sich diesen Sommer verändert hat, war, dass ich bemerkt habe, dass ich im Winter nicht wirklich selbstbewusst war. Ich habe nur von mir erwartet, dass ich gute Ergebnisse erziele, dabei aber vergessen, auch mit mir selbst im Reinen und ein guter Mensch zu sein. Das habe ich verändert, ich springe nun auch für mich und nicht nur für das Ergebnis.
Nun gibt es in diesem Winter keine Weltmeisterschaft oder Olympischen Spiele. Was ist Ihr Highlight, worauf freuen Sie sich am meisten?
Das Highlight habe ich schon erlebt (lacht). Konkrete Ziele habe ich mir keine gesetzt, ich möchte einfach nur jeden Sprung genießen und auf jeder Schanze und an jedem Ort Spaß haben. Ich habe schon mehr erreicht, als ich mir vorgenommen habe.
Spontan fiele mir nur Vikersund ein. Mich dort für das Ergebnis mit Platz 15 von 15 Teilnehmerinnen zu revanchieren, das würde mir gefallen. Allein, weil ich nicht zufrieden war, wie ich aus der letzten Saison gegangen bin.
Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg für den Winter!
Das Gespräch führte Luis Holuch.


