Vor dem Saisonstart der Skispringer galt Halvor Egner Granerud als großer Favorit, hatte der Norweger doch im vergangenen Winter die Szene dominiert. Aber: In den ersten vier Weltcups der Saison sprang Granerud nur hinterher. Skisprung-Experte Martin Schmitt erklärt, warum es im erfolgsverwöhnten norwegischen Team hapert.
16, 10, 15, 17 - die Platzierungen der ersten vier Weltcup-Springen erfüllen die Ansprüchen eines Halvor Egner Granerud nicht ansatzweise. Im Vorjahr noch dominierte der 27-Jährige weite Teile der Saison, gewann die Vierschanzentournee und die große Kristallkugel des Gesamtweltcupsiegers. Von seiner letztjährigen Form ist Granerud derzeit aber so weit entfernt wie vom österreichischen Überflieger Stefan Kraft.
"Für ihn ist es jetzt wichtig, die Ruhe zu bewahren, weiterarbeiten, um im Grenzbereich wieder Vertrauen zu finden", sagt Skisprung-Legende Martin Schmitt im Interview mit sport.de. "Die Körpersprache bei Granerud war nicht immer ganz positiv", moniert der 45-Jährige: "Er ist natürlich sehr ehrgeizig, da ihm jetzt Meter fehlen. Die sind aber technisch erklärbar. Ich glaube, wenn er zu seinem Sprung kommt und wieder Vertrauen hat am Limit, dann kann er auch wieder mitspringen."
Granerud und seine norwegischen Teamkollegen "schauen ja alle Video und werden schon sehen: Okay, wir haben im technischen Bereich Verbesserungspotenzial", so Schmitt, der vor Hauruck-Aktionen warnt: "Diesen Schritt kann man im Skispringen nicht erzwingen. Mann kann nicht sagen: Ich sehe ein Fehlerbild und ändere das jetzt mit einem Sprung. Das sind kleine Schritte. Man muss langsam das Vertrauen aufbauen – nur dann hat man die Sicherheit für einen ganz weiten Sprung."
Skispringen: Norweger können das Limit nicht mehr so ausreizen
Insgesamt täten sich die norwegischen Springer mit den Regeländerungen zur neuen Saison schwer. So messe der Weltverband FIS das Ausgangsmaß für den Sprunganzug nunmehr anders, auch dürfen die Springer in ihren Schuhen nicht mehr ganz so erhöht auf der Ferse stehen wie noch im Vorjahr, erläutert der Experte. Allesamt Punkte, bei denen Team Norge in der Vergangenheit das Limit ausgereizt habe.
"Ich hatte den Eindruck, dass die Norweger tendenziell eher ein aggressiveres Setup hatten die letzten Jahre, dass sie versucht haben, mit dem Maximum zu arbeiten – nicht über Grenzen, aber das Maximum nutzen", sagt Schmitt. "Dass, was erlaubt war, haben sie ausgenutzt, vor allem im Schuhbindungsbereich. Diese aggressive Abstimmung haben sie einfach beherrscht. Jetzt müssen sie sich vielleicht etwas helfen, sich technisch anpassen, die Anfahrtsposition etwas verändern. Das ist ein Prozess, der braucht ein bisschen Zeit."
Abgeschrieben hat Schmitt Granerud und Co. für den weiteren Saisonverlauf und die Vierschanzentournee noch nicht. Der Abstand zu Kraft sei zwar "schon recht groß, aber gerade die Norweger werden schon besser werden".