Suche Heute Live
Biathlon
Artikel teilen

Biathlon

Bitterling im exklusiven sport.de-Interview

Biathlon-Chef mahnt: "Dann hat der Sport ein Problem ..."

DSV-Sportdirektor Felix Bitterling blickt im Interview mit sport.de auf die kommende Biathlon-Saison voraus
DSV-Sportdirektor Felix Bitterling blickt im Interview mit sport.de auf die kommende Biathlon-Saison voraus
Foto: © IMAGO/Harald Deubert
23. November 2023, 13:43
sport.de
sport.de

Am Wochenende beginnt in Östersund die Biathlon-Weltcupsaison 2023/24. Im exklusiven Interview mit sport.de sprach DSV-Sportdirektor Felix Bitterling über die Ziele der deutschen Mannschaft, den Status des deutschen Nachwuchses, die Folgen des Fluor-Verbots und vieles mehr. 

Herr Bitterling, die neue Saison steht endlich vor der Tür. Wie groß ist die Vorfreude im deutschen Team?

Felix Bitterling: "Die Vorfreude ist auf jeden Fall da. So kurz davor ist es etwas stressig, bei den Athleten vor allem auch mental. Bei uns ist es die Logistik, es müssen noch Tausend Sachen erledigt werden. Aber dafür bereiten wir uns den ganzen Sommer und Herbst vor. Und irgendwann ist es auch notwendig, dass es wieder losgeht. Man trainiert und trainiert und weiß aber nicht, was die Trainingsleistung wert ist. Deshalb ist es wichtig, dass man jetzt mit den Wettkämpfen startet und die Athleten aus dem Gatter lässt."

Für Sie persönlich ist es die zweite Saison als Sportdirektor. In Ihrem ersten Jahr haben sie bereits einige Veränderungen angestoßen. Welche Schwerpunkte haben Sie im Sommer hinter den Kulissen abgearbeitet?

"Wir haben die ein oder andere Anpassung im Trainerteam bei den Herren vorgenommen, nicht nur im Weltcup-Männerteam. Dort haben wir konsequent an der fehlenden Laufstärke weitergearbeitet und Jens Filbrich oben eingebaut, weil wir die Notwendigkeit gesehen haben. In der B-Mannschaft haben wir Niklas Kellerer in die Lauftrainer-Gruppe eingebaut. Gemeinsam mit Andreas Stitzl im Juniorenbereich arbeiten sie Hand in Hand, um die Lücke, die wir läuferisch bei einigen Athleten haben, zu schließen und sicherzustellen, dass die jungen Athleten, die jetzt aus den Landesverbänden zum DSV kommen, besser ausgebildet sind."

Wie ist der Status des deutschen Biathlon-Nachwuchses? Dort ist der DSV in den letzten Jahren ein wenig ins Hintertreffen geraten.

"Es sind in der Vergangenheit mit Sicherheit Dinge passiert, die nicht ganz ideal gelaufen sind. Ich möchte da gar keine Schuld zuweisen. Ich denke, dass wir die Thematik absolut erkannt haben und wir mit unserem System und im Nachwuchsbereich mit unserer Trainer-Taskforce die ersten Schritte eingeleitet haben. Das sind alles Prozesse, die dauern. Ich kann nicht sagen, ich dreh an zwei Rädchen und habe im nächsten Jahr Hundert Athleten, die alle auf dem gleichen Niveau sind. Vieles wurde auch schon von meinem Vorgänger Bernd Eisenbichler angestoßen. Man muss im Biathlon eine Sache sehen: Wir haben 33 Nationen im Weltcup. Davon haben 20 entsprechende Top-Athleten. Da kann es bei einem Wettkampf ganz schnell passieren, dass man mal 17., 18., 20., 25. wird. Das macht es einfach schwer.

Ich glaube nicht, dass bei uns alles falsch gemacht wurde. Der Biathlon-Sport hat eine so rasante Entwicklung genommen, dass wahnsinnig viele Nationen auch monetär mittlerweile tolle Möglichkeiten haben. Das macht es nicht einfach. Wir dürfen uns jetzt nicht zurücklehnen, gleichzeitig darf man schon zufrieden auf die letzten Jugend- und Junioren-Weltmeisterschaften zurückschauen, wo wir zu den führenden Nationen gehört haben. Das heißt jetzt noch nichts, aber es zeigt, dass wir Athleten haben, die Potenzial haben. Wenn wir nichts falsch machen, ist definitiv die Chance da, dass diese oben ankommen und wieder eine etwas beeindruckendere Rolle im Weltcup spielen als in der jüngsten Vergangenheit."

Im Sommer wurde beim DSV viel an der Schießleistung gearbeitet. Die Mannschaften waren unter anderem zwei Mal im Windkanal von BMW, um zu testen. Welche Erkenntnisse haben Sie da gewonnen?

"Das war Neuland für uns. Wir wollten sehen, ob sich gewisse Tendenzen, die wir gesehen und gemessen haben, sich zum Beispiel bei stärkerem Wind verstärken. Man kann durchaus sagen, dass ein guter Schütze auch im Wind stabiler ist. Es wurde zum Beispiel mit Druckmessplatten die Gewichtsverteilung auf den Füßen gemessen und geschaut, ob sich diese verändert, wenn der Athlet Wind verspürt, was nicht so positiv ist. Für uns war es eine interessante Sache zu sehen, ob wir daraus Erkenntnisse ziehen können. Wir haben im technischen und Material-Bereich sicherlich ein, zwei Ideen daraus gewonnen. Die sind aber noch nicht spruchreif oder im Einsatz. Ansonsten haben wir vor allem an der Thematik der Schießgeschwindigkeit gearbeitet. Dort haben wir definitiv Nachholbedarf. Das haben wir im letzten Jahr klar gesehen.

Wenn unsere Athletin oder unser Athlet am Schießstand und im 1-gegen-1 gegen einen Norweger oder eine Norwegerin war, dann drücken die einfach ab. Die schießen vielleicht auch Fehler, aber wir brauchen teilweise, übertrieben gesagt, so lange mit der Schießeinlage, dass der Norweger aus seiner ersten Strafrunde schon wieder zurück ist. Das ist zu lang. Daran haben wir sehr gearbeitet."

Ohne fluorhaltiges Wachs in die Biathlon-Saison: "Ein schwieriges Thema"

Ein großes Thema ist das Verbot von fluorhaltigem Wachs. Man hat das Gefühl, dass es da noch große Unsicherheit bei den Mannschaften gibt. Wie geht der DSV mit dem Thema um?

"Das ist ein schwieriges Thema, weil es für alle komplett neu ist. Ich glaube, man muss es zweiteilen. Der eine Teil ist, fluorfrei zu sein und durch den Test zu kommen. Das ist möglich. Wir hatten in Norwegen [beim Saisonstart in Sjusjøen] keine Probleme, Skier fluorfrei zu liefern. Der zweite Teil ist mindestens so schwer: Der Ski ist durch die Kontrolle gekommen, aber ist er auch schnell? In dem Bereich gibt es die größere Unsicherheit. Das ist für uns eine Challenge. In Norwegen ist das für uns nicht ideal gelaufen. Da waren wir nicht begeistert, weder die Athleten noch wir oder unsere Techniker.

Wir müssen da jetzt einfach testen, testen, testen und schauen, wie groß die Unterschiede bei den Wettkämpfen sind. Wenn diese Unterschiede jetzt so wie in Norwegen bleiben, hat Biathlon als Sport ein Problem. Dann hast du Wettkämpfe, die niemand sehen möchte. Wir haben über Jahrzehnte ein Wachs-Verzeichnis angelegt. Und das ist jetzt im Prinzip alles Makulatur. Das Verzeichnis gibt es noch, aber die Produkte, die in diesem Verzeichnis stehen, gibt es nicht mehr. Das muss man sich jetzt komplett neu erarbeiten."

Wie groß ist der Unterschied zwischen Skiern, die mit fluorhaltigem und fluorfreiem Wachs präpariert sind? Lässt sich das beziffern?

"Das hängt sehr von den Bedingungen ab. Es gibt fluorfreie Wachse, die bei bestimmten Bedingungen sehr gut laufen. Aber der Unterschied bei typischen Fluor-Bedingungen ist eklatant. Wenn ich zwei gleichstarke Athleten habe, von denen einer mit Fluor-Skiern läuft und der andere nicht, dann ist der ohne Fluor chancenlos."

Das heißt, das Verbot kommt laufstärkeren Athleten mehr entgegen?

"Grundsätzlich würde ich das so sehen. Es kommt allerdings auch auf die Lauftechnik an. Wenn sich die Gleitpassagen bei einem laufstarken Athleten durch das Verbot ändert, kann es sein, dass er unter dem Verbot mehr leidet als jemand, der nicht so laufstark ist. Weil er einfach seine Technik nicht mehr auf die Piste bringen kann. Wenn ein Athlet, der sein Leben lang Fluor-Ski gelaufen ist, jetzt ohne läuft, ist sein erstes Gefühl: Der Ski geht ja gar nicht. Weil er einfach keinen Vergleich hat."

Sportdirektor Bitterling schätzt deutsche Chancen ein

Schauen wir auf die deutschen Mannschaften. Die Männer-Auswahl geht mehr oder minder unverändert in die Saison. Mit welchem Abschneiden wären Sie zufrieden?

"Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass man Erfolge nicht an einer gewissen Anzahl von Resultaten festmachen kann. Um die Norweger zu schlagen, musst du eine Top-Lauf- und Top-Schießform haben. Und wir brauchen nicht darum herumreden, dass derzeit einige von unseren Herren nicht in der Lage sind, auf höchstem Niveau lauftechnisch mit den Norwegern mitzuhalten. Wir wollen die, die das Zeug dazu haben, in die Situation bringen, um das Podium mitzulaufen. Die, die noch nicht die Top-Resultate stehen haben, wollen wir konsequent heranführen: Zum Beispiel hat sich Justus Strelow letztes Jahr toll entwickelt und soll jetzt statt Platz 16, 17 konstant an die Top 10 heranlaufen.

In einer so komplexen Sportart muss man realistisch bleiben. Alle anderen arbeiten auch. Eines unserer großen Ziele sind die Staffeln. Wenn wir da unsere Leistung bringen, gehören wir zu den Besten. Da wollen wir konstant ums Podium mitlaufen. In der Mixed- und Single-Mixed-Staffel wollen wir auch besser werden und einiges aus dem letzten Jahr korrigieren. Das hat uns nicht gefallen, in welche Bereiche wir da abgerutscht sind.

Bei den Damen ist die Situation ein bisschen anders. Die Mannschaft ist deutlich jünger. Da haben wir auch keine Ergebnisvorgaben, aber dort wollen wir von Wettkampf eins an um das Podium mitlaufen. Wir wissen, dass wir verhältnismäßig viele Athletinnen haben, die mitmischen können. Das Feld im Damen-Weltcup schätzen wir auch als deutlich offener als bei den Herren mit den übermächtigen Norwegern ein. Da liegt unsere große Chance."

Viel wurde in den letzten Monaten über Selina Grotian (19) gesprochen, der schon jetzt eine große Zukunft vorausgesagt wird. Wie schaffen Sie es, die Erwartungshaltung realistisch zu halten?

"Selina ist so ein bisschen die Front-Frau unseren jungen vielversprechenden Garde und ihren Teamkolleginnen aus dem Nachwuchs durch ihre letztjährigen Ergebnisse ein, zwei Schritte voraus. Aber sie soll im Weltcup erstmal Erfahrung sammeln. Sie ist ehrgeizig genug, ihr muss man kein Ziel vorgeben. Für eine so junge Athletin legt sie eine beeindruckende Mentalität an den Tag. Von uns gibt es da ganz klar keine Ansage, dass sie dies oder jenes erreichen muss. Sollte es nicht so klappen, wäre es auch überhaupt kein Beinbruch, wenn so eine junge Athletin mal in den IBU-Cup zurückgeht. Das ist völlig normal. Für sie heißt es: lernen und ohne Druck die bestmögliche Leistung abrufen."

Sie haben sich in der Vergangenheit immer wieder dafür stark gemacht, Leute aus der zweiten Reihe in den Weltcup hochzuziehen. Können wir in diesem Jahr eine verstärkte Rotation erwarten?

"Grundsätzlich haben wir das schon im letzten Jahr konsequent gemacht. Sonst wäre Selina Grotian zum Beispiel nie im IBU-Cup angekommen. Diese Rotation gibt es und wird von uns ganz klar forciert. Wir schauen uns das von Woche zu Woche an. Es geht aber nicht darum, wild durchzuwechseln. Wir schauen in allen Serien, ob es jemanden gibt, der sich von unten aufdrängt oder jemanden, der oben etwas schwächelt. Da sind viele Emotionen drin und es gehören auch kleine Dramen dazu. Das sind Sachen, die machen mir oder den Trainern nicht immer Spaß, weil man natürlich auch den Menschen sieht. Aber unser Job ist es, fachlich die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das ist ein Spagat, den der Leistungssport so erfordert."

Franziska Preuß hat einen guten Sommer gehabt und ist endlich länger verletzungsfrei und gesund geblieben. Geht sie als neue Nummer eins in die Saison?

"Wir bekommen oft die Frage, wer nach dem Rücktritt von Denise Herrmann-Wick die neue Leaderin ist. Die eine klare Leaderin haben wir nicht. Es ist mehr so, dass die Stärke jetzt aus der Gruppe kommt. Ich glaube, dass eine Franzi Preuß, die wieder in der Lage ist, Top-Platzierungen einzufahren, sicher eine Kandidatin ist. Aber auch eine Vanessa Voigt war jetzt zwei Jahre sehr konstant und will den nächsten Schritt machen. Was Hanna Kebinger draufhat, haben wir in den letzten Jahren in kürzester Zeit gesehen. Auch eine Sophia Schneider ist extrem laufstark. Wir haben da einige und ich möchte niemanden hervorheben."

Abschließend der Blick zu den Favoriten im Weltcup. Denise Herrmann-Wick sagte, sie fürchtet bei den Herren wieder eine "norwegische Saison". Da kann man schwer widersprechen, oder?

"Nein, es sieht danach aus. Gerade bei den Männern. Es ist unglaublich, wenn man auch die zweite Garde sieht, die schon den IBU-Cup nach Belieben dominiert hat und wo Leute, die zehn Rennen gewinnen, es trotzdem nicht in die A-Mannschaft schaffen. Nichtsdestotrotz kann man da sicher Nadelstiche setzen. Wir wollen da sein, wenn sich die Chance ergibt. Benedikt Doll ist genannt worden, Roman Rees hat sich toll entwickelt, Philipp Nawrath kann in guter Form den nächsten Schritt machen ... sie können die Norweger schon mal temporär fordern. Es wäre aber nicht gerechtfertigt zu sagen, dass wir die Norweger platt machen. Das ist auch eine Frage des Respekts. Ich würde unsere Herangehensweise mal als angriffslustige Demut bezeichnen ..."

Bei den Frauen ist das Feld offener. Wie viel trauen Sie dem Team zu?

"Ich glaube, dass wir Athletinnen haben, die grundsätzlich bei jedem Rennen vorne reinlaufen und ums Podium kämpfen können. Was den Unterschied zu den absoluten Top-Damen macht, ist vor allem die Konstanz. Wir haben jetzt noch keine dabei, die bei jedem Wettkampf das Format einer Julia Simon im letzten Jahr oder einer Lisa Vittozzi hat, wo wahnsinnig viel passieren muss, damit sie mal nicht in die Top 10 laufen. Die Konstanz haben wir noch nicht. Aber wir haben einige Athletinnen, die sich das erarbeiten könnten. Wir wollen trotzdem bei jedem Wettkampf angreifen und das ein oder andere Podium einsammeln."

Das Interview führte Christian Schenzel

Newsticker

Alle News anzeigen