Nur wenige Coaches feierten in ihrer Karriere so große Erfolge wie Sean McVay mit den Los Angeles Rams. Dabei ist er mit 37 Jahren immer noch der jüngste Cheftrainer in der NFL. Am Sonntag trifft McVay auf Pete Carroll (Live ab 22:25 Uhr bei RTL). Mit 72 Jahren ist der Trainer der Seattle Seahawks fast doppelt so alt. Beide könnten unterschiedlicher nicht sein.
Während Pete Carroll seit 22 Jahren ununterbrochen als Head Coach tätig ist, übernahm Sean McVay 2017 das Amt des Hauptübungsleiters bei den Los Angeles Rams. Doch im Alter und der Erfahrung liegt nicht einmal der größte Gegensatz. Es beginnt bereits mit ihrer Herangehensweise, ihrer Philosophie als NFL-Trainer.
Pete Carroll seit 2010 in Seattle
Als Carroll seinen letzten Spielzug von der Seitenlinie an seinen Quarterback Russell Wilson weiterreichte, war McVay noch Offensive Coordinator bei Washington. Es war der 1. Februar 2015 und viele werden sich noch an den Spielzug im Super Bowl gegen die New England Patriots erinnern, bei dem Carroll veranlasste, dass der Ball geworfen werden sollte, anstatt Running Back Marshawn Lynch die letzten Yards per Lauf überbrücken zu lassen. Die daraus resultierende Interception verfolgt den erfahrenen Haudegen bis heute.
Heute ist der Head Coach in Seattle ein Koordinator und "Players' Coach", wie es so schön im Englischen heißt. Carroll bildete in den letzten Jahren hervorragende Assistenztrainer aus. So gilt sein Offensive Coordinator Shane Waldron als einer der heißesten Anwärter auf einen neuen Cheftrainerposten und sein letztjähriger Quarterbacks Coach Dave Canales ist nun der Play Caller für die Offense der Tampa Bay Buccaneers. Das Personal von Carroll ist demnach gefragt.
Gelobt wird aber vor allem der Umgang mit seinen Spielern. Schwierige Charaktere finden sich in seinem Team genauso wie zurückhaltende Talente, die ihr Potential am College noch nicht abrufen konnten. Carroll schafft es, indem er Disziplin und ein sympathisches Auftreten mit der nötigen Härte kombiniert, zu jedem Spieler einen ganz eigenen Zugang zu finden. Das zeichnet seine Arbeit aus und dafür schätzen ihn seine Kollegen.
Carroll respektiert McVay
Pete Carroll hat aber auch Respekt für seine Gegner übrig. Im Podcast "OnPoint Live" von Jackie Slater sprach Carroll vor der Saison über Sean McVay, den jungen Trainer des Rivalens aus Kalifornien: "Er ist einer der besten Trainer, gegen den ich je gearbeitet habe. Ich liebe es, gegen ihn anzutreten. Ich liebe es, dass er ein junger Mann ist, ich ein alter Mann und wir ständig gegeneinander antreten können."
Der Seahawks-Coach bezeichnet sich im Gespräch selbst als alt, auch wenn er sich noch längst nicht zum alten Eisen zählen mag. Ihn motiviert, wie ihn der junge McVay zu Höchstleistungen herausfordert, indem er sich einem ganz anderen Typus Head Coach gegenübersieht.
Denn McVay ist ein Play Caller, ein offensives Mastermind, das in jedem Spiel wieder ein neues, komplexes und kreatives Play für den Gegner bereithält. Er ist das, was man in Deutschland vor einigen Jahren noch als “Laptop-Trainer” im Fußball verschreien wollte.
Sean McVay ist ein Genie
Der Rams-Coach analysiert seine Gegner und sucht ihre Schwachstellen akribisch, bis er sie gefunden hat. Im Gegensatz zu anderen Trainern benötigt er in seinem Team nicht die großen Playmaker, sondern setzt darauf, jeden Spieler in seinem Scheme nach seinen Stärken und perfekt zugeschnitten auf die gegnerische Defense einzusetzen. Diese Herangehensweise bescherte ihm am Ende der Saison 2021 den ersten Super-Bowl-Titel.
Ausgezeichnet als MVP des Endspiels und Offensive Player of the Year wurde Cooper Kupp. Der Wide Receiver kam von einer kleinen Schule aus dem Nordwesten des Landes und wurde erst in der dritten Runde des NFL Drafts 2017 ausgewählt. McVay und Kupp arbeiten praktisch seit dem Beginn ihrer Zeit bei den Los Angeles Rams miteinander und der Passempfänger ist so etwas wie das Meisterstück des offensiven Strategen. Denn McVay findet auf dem Feld immer wieder Bereiche für Kupp, in die er ungedeckt vorstoßen kann, um anschließend nach dem Catch für viel Raumgewinn zu sorgen. Das Spiel ist, wie nun auch für Puka Nacua, perfekt auf seine Receiver abgestimmt.
Der frühe Erfolg für McVay ist eine große Auszeichnung. Kein Trainer gewann so früh den Super Bowl und sicherte sich damit die begehrteste Trophäe im American Football. Doch der erfahrene Carroll sprach im Podcast auch über die Kehrseite des großen Erfolgs von McVay: "Ich bin mir sicher, dass es für Sean schwer war, weil sie so früh so erfolgreich waren, dass es schwierig ist, herauszufinden, wie man das auch bleiben kann. Es ist eine große Herausforderung."
Deshalb dachte McVay sogar früher daran, in den Ruhestand zu gehen, als der alte Trainer von den Seahawks. Es gab in der Saison 2022 Avancen mehrerer Fernsehsender, ihn als Experten vor die Kamera zu holen. McVay entschloss sich aber, nach langem Hin und Her weiter an der Seitenlinie zu bleiben.
Coach Carroll wird das freuen. So erhält er bis zu seiner verdienten Rente die Gelegenheit, mehrmals im Jahr gegen die besten Coaches in der NFL anzutreten. Junge und erfolgreiche Trainer wie McVay zeigen Carroll nicht auf, dass er zu alt ist und bald seine Karriere beenden sollte. Sie motivieren ihn noch einmal, das Beste aus sich und seinen Spielern herauszuholen.
Philipp Forstner