Als Dariusz Michalczewski am 18. Oktober 2003 gegen Julio Cesar Gonzalez in den Ring steigt, hat er einen legendären Rekord vor Augen. Doch statt Geschichte zu schreiben, verliert der "Tiger" in Hamburg seinen WM-Titel im Halbschwergewicht. 22 Jahre später ist bei Michalczewski zwar kein Stachel stecken geblieben - verstehen kann er die Niederlage aber bis heute nicht.
49 Kämpfe, 49 Siege: Die Marke des legendären Schwergewichts-Champions Rocky Marciano ist am 18. Oktober 2003 in der Hamburger "Color Line Arena" allgegenwärtig. 15.000 Zuschauer sind da - in der Hoffnung, Augenzeugen zu sein, wenn Dariusz Michalczewski Box-Geschichte schreibt.
Der "Tiger" ist nur noch einen Sieg davon entfernt, die magische, geradezu mythische Marciano-Serie einzustellen. Sein Herausforderer um den WBO-Titel, den Michalczewski seit 1994 hält, ist aber alles andere als eine Durchgangsstation zum Rekord. Julio Cesar Gonzalez steht bei allen großen Weltverbänden unter den ersten Drei, ist 2001 mit dem großen Roy Jones jr. immerhin über die volle Distanz gegangen. Der Mexikaner hat sieben Lenze weniger auf dem Buckel als der 35-jährige Titelverteidiger, ist zudem fünf Zentimeter größer - und wesentlich frischer.
In Michalczewskis Knochen stecken dagegen viele Schlachten. Den erhofften Kampf gegen Jones jr. hat er nie bekommen, dafür dutzende Herausforderer um seine WBO-Krone in brutalen Abnutzungs-Gefechten plattgewalzt. 23 Mal hat der "Tiger" seinen Gürtel behauptet. Nummer 24 würde ihn statistisch nicht nur auf eine Stufe mit dem echten Rocky stellen. Der Rekord von 25 Titelverteidigungen des nicht minder ikonischen Joe Louis wäre plötzlich auch ganz nah.
In Hamburg aber ist Herbst, das gilt auch für Michalczewski. "Take two to give one" (nimm zwei, um einmal auszuteilen) - jahrelang ist der Offensiv-Boxer, wie einst Marciano, nach diesem riskanten Stil verfahren. Bis zuletzt hat es gereicht, weil die Gegner unter dem unbarmherzigen Druck des "Tigers" und seiner linken Führhand irgendwann einbrachen, auch wenn sie den Champion ihrerseits malträtierten.
Als am 18. Oktober der Gong schlägt, reicht es für Michalczewski nicht mehr. Der Weltmeister muss seinem wilden Leben im Ring Tribut zollen. Gonzalez nutzt seine wesentlich größere Reichweite, kontert den "Tiger" immer wieder aus, landet viele "einfache" Treffer. Am Rekordjäger prallen diese zwar wie gewohnt ab, Michalczewski aber trifft selbst zu wenig. Ab der zweiten Runde beeinträchtigt ihn auch noch eine Wunde über dem Auge, die ein unabsichtlicher Kopfstoß seines Herausforderers aufgerissen hat. Kurzum: Es läuft einfach nicht.
Boxen: Michalczewski hätte gegen Gonzalez "nicht verlieren dürfen"
Nach wie vor marschiert der "Tiger", auch wenn das Blut in Strömen an seinem geschundenen Körper herunter fließt. Zu selten aber gelingt es Michalczewski, den Kampf mit seinem Jab zu diktieren und Gonzalez in der Ecke festzunageln. In der Vierten blitzt die alte Raubkatze kurz auf, landet eine Salve am Kopf des Mexikaners. Die Halle tobt, bald darauf verstummt sie wieder.
"Du musst mehr machen!", schreit Michalczewskis Promoter Klaus-Peter Kohl in den letzten Runden verzweifelt aus der ersten Reihe. Der Schützling von Fritz Szdunek gibt nochmal Stoff. Es ist beileibe kein einseitiger Kampf. Doch es bleibt dabei: Gonzalez trifft häufiger.
Nach zwölf Runden steht Michalczewski erschöpft an den Ringseilen, schaut flehend nach oben, als das Urteil gesprochen wird: Zwei Punktrichter werten für den Gast, einer hat den Publikumsliebling vorne. Niederlage durch "Split Decision", die erste in Michalczewskis Karriere (wenngleich ihm Graciano Rocchigiani schon 1996 ein gewisses Verlierer-Gefühl vermittelt hatte).
"Das ist einfach Sport. Man soll nicht traurig sein", sagt Michalczewski, der 2005 nach einer weiteren Niederlage die Boxhandschuhe endgültig an den Nagel hängt. Und traurig ist er bis heute nicht. 21 Jahre nach seiner Entmachtung betreibt Michalczewski in seiner Heimat Danzig zwei Fitness-Studios, unterstützt mit seiner Stiftung junge Sportler und ist am Umsatz des "Tiger Energy Drinks" beteiligt, der in Polen getrunken wird wie Red Bull.
Ganz verdaut hat Michalczewski den 18.10.2003 aber doch nicht. "Eigentlich" habe er das Duell mit Gonzalez gewonnen, kritisierte der "Tiger" zwei Jahrzehnte später im "BOXSPORT"-Magazin die Punktentscheidung von damals. "Als Weltmeister und Heimboxer hätte ich so einen Kampf nicht verlieren dürfen."
