Justin Lisso zählt zu den Hoffnungsträgern der deutschen Skispringer. In seiner ersten sport.de-Kolumne schreibt der 23-Jährige über seine jüngste Weltcup-Nominierung.
"Der Sprung war so perfekt, dass ich ihn zerstören musste, um zu überleben" – während wir uns auf der Anreise zum Weltcup in Bad Mitterndorf allmählich dem Chiemsee nähern, lese ich diesen Satz in der Autobiographie von Toni Innauer, der einen Sprung beim Skifliegen beschreibt, den er bei der Skiflugwoche 1976 in Oberstdorf mit Weltrekordweite abschloss. 174 Meter war Innauer damals in der Luft, Jahrzehnte später sprang der Österreicher Stefan Kraft gar 253,5 Meter.
Der deutsche Skispringer Dieter Thoma dagegen verglich seinerseits das Gefühl beim Skifliegen mit einem "Mix aus Verliebtsein und dem Gefühl, gerade noch einem Autounfall entkommen zu sein". Der Griff in die Zitatekiste zeigt auf jeden Fall: Skifliegen ist für jeden Skispringer ein Traum und diesen darf ich am bevorstehenden Wochenende leben.
Der Anruf des Trainerteams kam am frühen Morgen nach der Weltcup-Rückkehr des A-Teams um Karl Geiger aus Japan. Nach konstant guten Leistungen im COC-Cup innerhalb der letzten Wochen wurde ich für die Weltcup-Stationen Bad Mitterndorf und Willingen nominiert, worüber ich mich riesig gefreut habe; nicht nur wegen der Nominierung, sondern auch gerade hinsichtlich des Umstands, dass in Bad Mitterndorf auf der Kulmschanze nicht "gesprungen", sondern "geflogen" wird.
Skifliegen ist eine andere Dimension: bei etwa 100 Stundenkilometern erfolgt der Abdruck vom Schanzentisch, um dann rund acht Sekunden später und 200 Meter weiter mit rund 130 Stundenkilometer zu landen. Diese Rahmenbedingungen fordern die Psyche des Athleten ungemein, zumal kaum Trainingsmöglichkeiten gegeben sind, da die Flugschanzen in der Regel auf Grund der kostenintensiven Präparierung nur für Wettkämpfe hergerichtet werden. Von Skiflugerfahrung zu sprechen, verbietet sich vor diesem Hintergrund und der Athlet stellt sich einer extremen Situation, die er so kaum kennt. Ich werde mich daher über die Trainingssprünge an die Aufgabe herantasten, kontrolliert und konzentriert ausloten, wie die Schanze zu nehmen ist.
Während die Kampenwand bei Aschau aus dem Nebel tritt, denke ich an mein erstes Skifliegen zurück, das mir unglaublich gut gefallen hat. Wenn man es einmal gemacht hat, möchte man es immer wieder machen. Dass mein Debüt im Weltcup auf das Skifliegen am Kulm trifft, ist ein Reiz mehr!
Ich freue mich auf die bevorstehenden Wettkämpfe in der Steiermark und im Sauerland innerhalb des Weltcupteams und bin hochmotiviert, um Weltcuppunkte zu kämpfen und mich für weitere Weltcups in dieser Saison zu empfehlen - und vielleicht kommt für mich ja auch die Gelegenheit, sagen zu können, dass einer meiner Sprünge so perfekt war, dass ich ihn zerstören musste.
Herzliche Grüße
Justin Lisso




