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Energiekrise beim Meister

Wie Union Berlin fast den FC Bayern auffraß

Julian Nagelsmann und der FC Bayern spielten nur remis in Berlin
Julian Nagelsmann und der FC Bayern spielten nur remis in Berlin
Foto: © IMAGO/Michael Taeger
04. September 2022, 08:08

Der FC Bayern reist als klarer Favorit zum Spitzenspiel in die Alte Försterei. Union Berlin hat nur ein Zehntel des Gehaltsbudgets des Rekordmeisters, aber eine unfassbare Moral. Im engen Stadion fressen die Köpenicker den FCB auf. Julian Nagelsmann klagt über einen dramatischen Energieverlust.

Kingsley Coman schleppte seinen Restkörper vom Platz. In den 73 Minuten zuvor hatte ihn der Norweger Julian Ryerson aufgefressen. "Am Ende gut verteidigt", sagte der 24-jährige Verteidiger von Union Berlin schlicht: "So muss das sein." Der Weltmeister von 2018 sah es sicherlich anders. Immer wieder rannte er sich fest, wollte die Bälle dann aus der Distanz in den Strafraum bringen. Doch die segelten zu oft ins Aus. Die 22.012 Zuschauer in der Alten Försterei feierten es, putschten ihre Mannschaft auf, sprangen hoch und brüllten.

Am Ende stand es 1:1. Bayern München war die Tabellenführung los, die Union Berlin nach dem Führungstreffer durch Sheraldo Becker in der 12. Minute für genau drei Minute innehatte. Bei seinem fünften Saison-Treffer war der Niederländer dem Weltstar Sadio Mané nach einem Freistoß von Christopher Trimmel davongelaufen. Wenig später räumte Joshua Kimmich erst die Reste einer Choreo vom Eckpunkt und erzielte dann mit einem trockenen Schuss nach mehreren missglückten Abwehrversuchen der Heimmannschaft den Ausgleich.

"Packt sie, packt sie, packt sie und zerhackt sie", rief einer, der mit einer als Meisterschale hergerichteten Radkappe ins Stadion gekommen war und später mit den restlichen Zuschauern ein nicht nur ironisches "Deutscher Meister wird nur der FCU" anstimmte. An diesem herrlichen Nachsommertag, an dem leichte Böen die heißen Tage der letzten Monate aus der Stadt trieben, setzte dieser Klub voller Widerstandskämpfer erneut ein Signal für die Liga: Bayern München muss nicht mit 90 oder mehr Punkten Meister werden. Man muss sie nur auffressen. Dann klappt das schon.

Mit Mittelalterrock gegen den modernen Fußball

In Köpenick werden nun schon seit dem Aufstieg in die Bundesliga im Jahr 2019 die Gesetze des Fußballs außer Kraft gesetzt. Klassenerhalt, Conference League, Europa League und plötzlich sogar Geheimfavorit auf den Titel. Was im Verein für schallerndes Lachen sorgte, während nach dem 6:1 bei Schalke 04 in der vergangenen Woche vor dem Spitzenspiel eine riesige Lawine der Erwartungen über sie hinwegrollte.

Am Ende war ihnen das egal. "Du schneidest so einen Klub nicht aus den Herzen und Köpfen der Menschen heraus. Das ist das eigentliche Kapital, diese Kraft, die ein Klub hat oder eben nicht", erklärte der außerhalb von Köpenick nicht nur verehrte Präsident Dirk Zingler in einem Interview mit der "Berliner Zeitung". Und daher, führte er aus, sei es auch egal, ob Wismut Aue, Dynamo Dresden oder eben Bayern München zu Gast ist.

Sie wollten also viel lieber "den Moment genießen", wie Stadionsprecher Christian Arbeit vor dem Spiel gegen Bayern München den Menschen zurief, während diese sich den Mittelalterklängen von In Extremo hingaben. "Wir werden siegen oder verlieren, das ist egal. Wir stehen zu dir. Wir sind vor lauter Liebe so krank, dem Fußballclub Union Berlin sei Dank", heißt es in dem Lied, das an diesem Samstag zu einer Choreo auf den drei Stehplatztribünen des Stadions lief. Es sind diese Variationen der Geschlossenheit, die auch die Bayern stolpern ließen. Wer nichts zu verlieren hat, kann alles gewinnen.

Müller warnte schon letzte Woche

Beim 1:1 zwischen Union Berlin und Bayern München zog der Gastgeber den ewigen Meister der Bundesliga auf das eigene Niveau herunter, raubte ihm die Freude und genoss es, die Bayern leiden zu sehen. Das Stadion peitschte sie mit brachialen Wechselgesängen voran und feierte jeden gewonnenen Zweikampf.

"Wir haben ordentlich gespielt, aber nicht gut, was allerdings auch an Union lag", sagte Thomas Müller, der lange Zeit eine gute Sicht auf das Spiel hatte. Der Nationalspieler saß erstmals in dieser Saison auf der Bank. Natürlich nicht, weil er schon in der Vorwoche vor der Reise in die Hauptstadt gewarnt hatte. "Man spielt da pauschal nicht gerne", hatte er am letzten Samstag gesagt, es also schon kommen sehen.


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Beinahe wäre es für die Bayern sogar noch schlimmer geworden. In einer wilden Schlussphase kamen beide Teams dem Sieg nahe, nicht nur die Gäste, die sonst immer irgendwie noch treffen. Drei Punkte für Union wären, so verrückt es klingt, nicht einmal unverdient gewesen. Für die Bayern auch nicht. Aber wann ist das schon einmal der Fall?

In der 75. Minute, kurz nachdem Nationalspieler Serge Gnabry den Platz von Coman eingenommen hatte, stieß Jamie Leweling seinen Gegenspieler Dayot Upamecano bei einem Konter leicht in den Rücken. Der Verteidiger hielt sich zunächst noch auf den Füßen, fiel im folgenden Zweikampf jedoch auf den Boden. Der deutsche U21-Nationalspieler, für vier Millionen Euro von Absteiger Fürth an die Spree gewechselt, hatte sich einmal zu oft gedreht. Auf dem Boden sitzend versuchte Upamecano noch irgendwie das Bein des 21-Jährigen zu erwischen, der war jedoch längst auf dem Weg in Richtung Strafraum. Dort endete der Vorstoß an den Armen von Manuel Neuer.

Keeper Rönnow rettet in der Not

Natürlich war Bayern München immer noch Bayern München, eine Mannschaft, die jederzeit zuschlagen und so ein Spiel für sich entscheiden kann. Doch selten gelang es ihnen durch die dicht stehenden Ketten der Unioner zu kombinieren. Das Heimteam ließ sich nicht locken, die Berliner attackierten den ballführenden Spieler im Mitteldrittel mit zwei Mann, zogen sich dann zurück an den Strafraum. Selten nur konnten die Bayern ihren Gegner mit langen Ballbesitzphasen ermüden und Lücken in die Ketten reißen. Zu dicht standen die beisammen, bewegten sich, verschoben sich und agierten als Einheit.

Wenn die Bayern doch eine Lücke fanden, stand dahinter Frederik Rönnow und parierte mit dem Fuß gegen Leroy Sané nach 36 Minuten und Alphonso Davies nach 83 Minuten - oder mit der Hand - gegen den blassen Sadio Mané in der Nachspielzeit. "Wir haben die Defensivleistung für ein Topspiel gezeigt", sagte Trainer Urs Fischer. "Obwohl Bayern 70 Prozent Ballbesitz hatte, wurden wir nie passiv. Die Ketten haben heute sehr, sehr gut zusammengearbeitet."

Kapitän Trimmel sagte, man habe sich nicht locken lassen. Einmal passierte es doch. Der Österreicher ließ sich in der zweiten Halbzeit zu einem Hackentrick an der Mittellinie hinreißen. Auf der rechten Abwehrseite klaffte eine große Lücke. Aber dann war da das Stoppschild Rani Khedira, der wieder einmal einen Angriff brach.

Kurze Hose, kurze Antworten: Julian Nagelsmann

Der Bruder des Weltmeisters zeigte, wie der Rest des Defensivverbundes um den ehemaligen Wolfsburger Robin Knoche eine beindrucke Leistung, brach Welle um Welle und führte die Bayern so an den Rand der Verzweiflung. Nur einmal, als Kimmich zum 1:1 traf, konnten die Bayern jubeln, den Rest der Spielzeit nervten die Unioner und machten Jagd auf die manchmal arg frustrierten Gäste, die ihre Arme zum Himmel reckten und um Beistand flehten. Doch das war nichts. Der Start-Ziel-Sieg in der 60. Bundesliga-Saison dahin.


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"Fragen Sie nach dem 25. Spieltag noch einmal", sagte Trainer Julian Nagelsmann auf die Alleinherrschaft der Bayern angesprochen. Seine Antworten waren so kurz wie seine Hose, die wieder einmal seine Knöchel nicht erreichen wollte. "Insgesamt war das Energieniveau nicht so, wie wir es bis jetzt hatten", sagte er und haderte wie bereits gegen Gladbach mit dem Schiedsrichter. Der Freistoß vor dem 1:0 für Union war keiner, wiederholte er mehrfach und philosophierte über seine eigenen Fußballkünste und wie man einen Standard schindet.

Für den Gegner aber fand er sonst nur lobende Worte, überhaupt Worte. Anders als eine Erklärung für den plötzlichen Energieverlust seiner Mannschaft. Dafür könne es 1000 Gründe geben. Einer davon war sicherlich Julian Ryerson. "Die Atmosphäre drumherum, wie wir füreinander kämpfen, das macht was mit uns. Dann kann man das auch ein bisschen genießen", sagte der Norweger und verschwand.

Stephan Uersfeld

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