Tony Martin amüsierte sich prächtig. Lächelnd hob der deutsche Radprofi das Champagnerglas, als am Mittwochabend zum zweiten Mal bei der Tour de France die Korken im Hotel seines Teams Jumbo-Visma knallten. Dass Belgiens Überflieger Wout Van Aert nach dem Etappensieg in Privas einen Toast aussprechen konnte, war schließlich sein Verdienst.
Martins Beitrag zum Erfolg ist unspektakulär, die Bedeutung seiner Leistung kann aber nicht hoch genug eingeschätzt werden: Antreiber, Wortführer, Fleißarbeiter. Für die derzeit wohl beste Mannschaft der Welt, die mit dem Slowenen Primoz Roglic den Tour-Sieg anpeilt, ist Martin unerlässlich. Nur die große Bühne überlässt er lieber anderen.
"Ich bin ein Teamplayer, diese Rolle entspricht meinem Naturell", sagte Martin kürzlich der "Stuttgarter Zeitung": "Es reicht mir, wenn ich von meinem Team für das, was ich tue, geschätzt werde. Und das ist der Fall!"
Martin ist der Mann, an dem sich in der niederländischen Equipe alle orientieren. Der junge Van Aert, Ex-Giro-Sieger Tom Dumoulin oder Tour-Favorit Primoz Roglic - sie alle hören auf das Kommando des 35 Jahre alten Routiniers, der meist an der Pelotonspitze zu finden ist. Martins Einfluss beschränkt sich dabei aber nicht nur auf das eigene Team.
Kritischer Geist, der Probleme offen anspricht
Wie angesehen der Wahl-Schweizer im gesamten Feld ist, zeigte sich beim verregneten Tour-Auftakt in Nizza. Reihenweise waren Fahrer auf spiegelglatter Straße zu Fall gekommen. Als Martin die Initiative ergriff und seine Kollegen mit erhobenen Armen mahnte und warnte, verringerte das Peloton umgehend das Tempo. "Dieser Schritt war stark von ihm", sagte auch Bora-Profi Maximilian Schachmann anerkennend.
Martin hat sich den Status als Leader über Jahre erarbeitet und verdient. Vier Mal war er Weltmeister im Zeitfahren, er gewann Paris-Nizza, triumphierte bei fünf Etappen der Tour de France und trug das Gelbe Trikot. Die Verantwortung, die diese Erfolge mit sich brachten, nahm er an.
Martin gilt als kritischer Geist, als einer, der Probleme offen anspricht und auch den Konflikt mit Verbänden und Verantwortlichen nicht scheut. Immer wieder machte er etwa auf Sicherheitsmängel aufmerksam - ein Auftreten, das ihm Respekt verschafft hat.
Vom "Panzerwagen" zum "Road Captain"
Auch sportlich hat Martin einen Wandel vollzogen. Bei seiner Tour-Premiere 2009 ließ er mit dem zweiten Platz am Mont Ventoux aufhorchen. Aus dem passablen Kletterer wurde einer der dominanten Zeitfahrer seiner Generation. Die Fähigkeit, über lange Zeit gleichmäßig hohe Wattzahlen zu treten, brachten ihm im Ausland den Spitznamen "Panzerwagen" ein.
Inzwischen hat er als "Road Captain" bei Jumbo-Visma das Sagen. "Ich versuche, das Team mit meiner Erfahrung zu führen, taktische Anweisungen zu geben, wenn es der sportliche Leiter nicht kann", sagte Martin der Deutschen Welle: "Mir macht das sehr viel Spaß. Ich genieße es auch, nicht mehr den unmittelbaren Ergebnisdruck zu haben. Insofern kann ich sagen, im Herbst meiner Karriere bin ich da angekommen, wo ich sein will."




