Noel Mikaelian ist gerade erst aus Los Angeles in seiner Wahlheimat Miami angekommen, als sport.de durchklingelt. An der Westküste hat er sich am Samstag in einem hitzigen Revanchekampf gegen Titelverteidiger Badou Jack zum zweiten Mal in seiner Karriere zum WBC-Weltmeister im Cruisergewicht gekrönt. Eine Genugtuung für den Mann aus Hamburg, der in seinem Boxerleben mehrere äußerst fragwürdige Niederlagen kassiert hat. Zuletzt im Mai in Riad, als ihn die Punktrichter gegen Jack nach zwölf Runden hinten sahen.
Im exklusiven sport.de-Interview blickt Mikaelian auf seine Kämpfe in und außerhalb des Rings zurück, spricht über Beleidigungen seines Gegners und verrät, warum das Duell in L.A. fast völlig eskalierte. Außerdem sagt der 35-Jährige, welchen Konkurrenzchampion er jetzt vor die Fäuste will, gibt freimütig zu, dass ihm gute Börsen wichtiger sind als WM-Gürtel - und enthüllt eine interessante Klausel in seinem Vertrag mit Promoter-Pate Don King.
Noel, Sie haben in Ihrer Karriere viele fragwürdige Punkturteile erlebt, die gegen Sie ausfielen. Was ging in Ihnen vor, als Sie der Ringrichter am Samstagabend an die Hand nahm und der Hallensprecher ausgerufen hat: And the New Champion … Nehmen Sie uns mit in Ihre Gefühlswelt.
Ich war euphorisch. Es fühlte sich an wie ein Schlussstrich nach all dem Stress dieses Jahr mit diesem Baou Jack, Don King, dem WBC. Vor der Urteilsverkündung bin ich noch rumgegangen und habe gefragt: Werden die mich dieses Mal wieder übers Ohr hauen? Obwohl ich wusste, dass ich gewonnen habe. Aber man weiß ja nie – in Riad hatte ich auch gewonnen. Als ich dann hörte "and the new", ist mir ein Stein von der Schulter und vom Herzen gefallen.
Der Sieg war ein hartes Stück Arbeit, der Kampf sehr physisch. Wie haben Sie das Duell wahrgenommen, wie fällt das Fazit aus?
Es war ein ziemlich dreckiger Kampf, so wie der erste ja auch. Ich habe mich in den mittleren Runden an seine Tricks angepasst und ihn selbst dann im Infight auch bearbeitet, habe Emotionen rausgelassen. Jack ist ein echt smarter Fuchs: diese ganze Halterei, wie er sich wegdreht. Als mir dann in Runde sieben ein Punkt abgezogen wurde wegen Schlagens auf den Hinterkopf dachte ich mir: Komm, pfeif auf die Punkte, zerstöre ihn einfach, tu ihm weh. So ist es dann auch gelaufen.
Dabei haben Sie den Kampf sehr kontrolliert begonnen und gepunktet …
Ich habe ihn in der ersten Runde mit meinem Jab erwischt und da hat er gewackelt. Da dachte ich, dass ich das Ding jetzt schnell beende und habe auf den perfekten Punch gewartet. Ich bin etwas verkrampft gewesen. Jack hat sich dann schnell umorientiert, war sehr wachsam und aufmerksam, dass ich ihn nicht erwische.
Das heißt, Sie haben die technisch saubere Linie irgendwann verlassen und haben sich auf einen Straßenkampf eingelassen?
Genau. Ich habe gedacht: Ok, wenn er es hart haben will, dann machen wir es hart. Jack hat mich schon die ganze Woche vor dem Kampf beleidigt, auch persönlich, ich weiß gar nicht, warum. Er hat wohl ein paar persönliche Probleme mit mir, die ich mir nicht erklären kann. Beim Face Off hat er Blödsinn gelabert, bei einer TV Show fing er an, er wisse Sachen über meine Familie, die er aber nicht nennen möchte. Bei den Face Offs konnte er nach fünf, sechs Sekunden, wenn es intensiv wurde, seinen Mund nicht mehr halten, hat mich als Faggot (homophobe Beleidigung, Anm.d.Red.) beschimpft, dass er mir das Gesicht zerstören werde. So hatte ich ihn gar nicht eingeschätzt, ich dachte immer, er wäre respektvoll. Ironischerweise musste er nach dem Kampf ins Krankenhaus mit seinem Gesicht und einem gebrochenem Jochbein.

Hatten Sie angesichts seines Verhaltens schon im Vorfeld das Gefühl: den habe ich im Sack?
Ich habe das bei den Face Offs schon gespürt. Mein Coach meinte auch, dass bei Jack das Adrenalin spricht, wenn er sich nicht halten kann. Jack hat voll einen auf Mike Tyson gemacht: Er hat gesprochen wie Mike Tyson, hat sich angezogen wie Mike Tyson, ist mit Mike Tysons Einlaufmusik zum Ring marschiert …
Und es eskalierte in L.A. dann auch fast wie zu Tyson-Zeiten …
In der achten Runde wurde der Ring von den Securities gestürmt. Er hat mich in den Ringseilen festgehalten und ich habe mit meiner Rechten weitergeschlagen. Da wurde Jack sauer, denn einiges war auf den Hinterkopf. Dann kam die Security von hinten und hat uns auseinandergehalten. Die Leute dachten schon, es gibt vielleicht eine Disqualifikation für beide (lacht). Ich habe auch gehört, die California State Athletic Commission hat das notiert.
Später kassierte aber auch Ihr Gegner einen Punktabzug.
Richtig. Er hat nach dem Trennkommando des Ringrichters geschlagen, als ich die Hände schon unten hatte und mir ein paar reingehauen. Passiert halt. Jack ist trotzdem ein Weltmeister in drei Gewichtsklassen, ein großer Name mit viel Erfahrung. Er hat viele gute Leute geboxt, ist wirklich ein Fuchs.
Noel Mikaelian schlägt Badou Jack: "Da ist sein Kopf schön hochgeflogen"
Glauben Sie, Jack wollte Sie im Vorfeld einfach nur komplett verunsichern? Oder ist er durchgedreht?
Ich denke schon, das waren alles Psychospielchen. Er wusste, dass ich ihn schlage, wenn er sauber gegen mich boxt. Wenn er nicht jedes Mal, bei jeder Aktion, seinen Kopf in meine Brust drücken würde, würde der Kampf viel technischer ablaufen und ich hätte den Kampf besser gewonnen. Jack wusste, dass er es dreckig machen muss, mich verunsichern muss, den jüngeren Typen. Er ist wirklich gerissen.
Er wusste aber scheinbar nicht, dass Sie aus Hamburg kommen, wo man derlei hanseatisch kühl abhandelt …
(lacht) Der wusste vieles nicht. Aber richtig: Nicht beeindrucken lassen vom Sturm. In der Ruhe liegt die Kraft. Nach dem Kampf hat Jack mir trotzdem Respekt gezollt und gesagt, ich war der bessere Mann. Ich bin zu ihm hin und habe gefragt: Na, wie hat sich der Faggot geschlagen? Sein Trainer Johnathon Banks (Ex-Coach von Wladimir Klitschko, d.Red.) kam zu mir und meinte: Du bist echt ein tough Motherfucker. Jack wollte einen Straßenkampf und den hat er bekommen.
Und das Urteil war dieses Mal eindeutig zu Ihren Gunsten. Gab es Schlüsselmomente im Kampf, in denen Sie dachten: Jawohl, das läuft hier heute, da kann nichts schief gehen?
Als die den Ring gestürmt hatten, war ich schon etwas sauer und dachte, dem muss ich jetzt wehtun. Ich habe ihn ein paarmal mit dem rechten Haken sehr gut erwischt an der Schläfe. Ich glaube, dadurch ist auch sein Jochbeinbruch zustande gekommen. Da wusste ich: Ich habe ihn. Dann habe ich ihn ein paarmal mit einer schönen Kombination getroffen: Rechter Haken, linker Aufwärtshaken – da ist sein Kopf schön hochgeflogen.
Außerdem hatte man das Gefühl, die Kondition war dieses Mal ein entscheidender Faktor zu Ihren Gunsten. Sie haben die letzten fünf Runden bei allen Punktrichtern gewonnen.
Ja klar – und auch das Gewicht machen. Ich hatte dieses Mal mehr Zeit, das Gewicht zu bringen, das ging dieses Mal sehr einfach von alleine runter, ich musste keine Bäder nehmen und so viel verlieren in den letzten Trainingswochen. Dementsprechend war ich auch nicht so schwer dann am Kampftag. Vor dem ersten Kampf musste ich in der kurzen Vorbereitungszeit viel Gewicht verlieren, weil ich ein bisschen dicker geworden war (lacht). Das waren um die 25 Pfund, dieses Mal war es viel weniger, hat also weniger Energie gekostet.
Der WBC-Titel gehört wieder Ihnen, Sie sind zurück an der Spitze, wo Sie auch vor zwei Jahren waren. Damals folgte eine Odyssee durch die Untiefen des Boxgeschäfts, vor allem Ihr Promoter Don King machte Ihnen das Leben schwer. Haben Sie Sorge, dass der alte Pate wieder im Weg steht.
Nein, eigentlich nicht, wir haben im Vertrag einige gute Sachen ausgehandelt. Er hat angerufen und gratuliert. Wir werden als Babys geboren und sterben als Babys, heißt es. So wirkt Don King auf mich. Ich hoffe, er wird mir jetzt nicht gegen das Schienbein treten und irgendwelche Summen verlangen für die Vereinigungskämpfe, die jetzt mein Plan sind.
Aber Sie sind immer noch bei Don King unter Vertrag?
Ja, ich habe immer noch einen King-Vertrag, habe aber eine Zusatzklausel. Wenn bessere Angebote auf dem Markt sind, darf ich diese annehmen, wenn King sie nicht innerhalb von fünf Tagen matchen kann. Und da King praktisch nichts mehr macht, bin ich da in einer ganz guten Position.
Vereinigungskampf gegen Jai Opetaia? "Let's go, let's go!"
Angebote dürften kommen. IBF-Weltmeister Jai Opetaia hat Ihnen sehr respektvoll gratuliert, Sie zugleich aber auch ganz klar zum Kampf aufgefordert. Ist das der Kampf, den auch Sie anstreben?
Absolut. Wenn wir das auf die Beine stellen können, dass das ein lukrativer Kampf wird. Dazu die Herausforderung, neue Titel zu gewinnen, den IBF-Gürtel und den Ring-Gürtel (der prestigeträchtige Titel der US-Box-Bibel "The Ring", Anm.d.Red.). Das war alles schon mein Ziel, als ich vor zwei Jahren Ilunga Makabu geschlagen habe und zum ersten Mal Weltmeister wurde.
Opetaia gilt bei vielen Experten als Nummer 1 im Cruisergewicht. Gehen Sie da mit – ist der Australier die größte Herausforderung in dieser Klasse, der Mann, den es zu schlagen gilt?
Das würde ich so nicht sagen. Vom Resümee würde ich sagen, Gilberto Ramirez (WBA/WBO-Champion, d.Red.) ist die Nummer 1, weil er viel bessere Cruisergewichtler geschlagen hat. Ex-Weltmeister Yuniel Dorticos zum Beispiel, mit dem ich auch trainiere und der ein harter Typ ist. Oder Chris Billam-Smith, auch ein Ex-Weltmeister. Jai Opetaia ist bisher nicht wirklich getestet worden, wackelt teils gegen Nobodies. Sein Rechtsausleger-Stil ist sehr unterhaltsam mit seiner Linken. Aber seine besten Siege waren gegen Mairis Briedis (2022 und 2024, d.Red.) und das waren Life-and-Death-Situationen. Da hat er gewonnen, dafür muss man ihm Respekt zollen. Aber die restlichen Titelverteidigungen – da hat er echt niemanden geboxt.
Im Quervergleich sehen Sie da gar nicht schlecht aus, denn Sie haben 2018 schon gegen einen deutlich jüngeren Briedis geboxt …
Das war in Briedis' Prime Time. Ihn habe ich eigentlich echt ohne Probleme geschlagen. (Anm.d.Red.: Mikaelian verlor das Duell in Chicago höchst umstritten nach Punkten)
Aber seine letzten sieben Gegner hat Opetaia allesamt ins Krankenhaus geschickt. Bekommt man da nicht Bammel?
Opetaia kann sicher hauen, alle Cruisergewichtler können hauen. Er hat sicher einen Vorteil mit seiner linken Hand, weil er als Rechtsausleger viel mehr Normalausleger boxt als ein Normalausleger einen Rechtsausleger. Opetaia ist ein guter Techniker, das ist nicht nur Power bei ihm, das ist gutes Timing. Aber die Gegner, die er zuletzt geboxt hat, waren keine wirklichen Weltmeisterschafts-Gegner, ohne negativ über sie zu sprechen. Ich verstehe nicht, wie die zu ihren WM-Chancen gekommen sind.
Opetaia stand eine Woche vor Ihnen gegen Hüseyin Cinkara aus Speyer im Ring, der ihn durchaus angeklingelt hat …
Stimmt, das habe ich gesehen. Aber Cinkara ist – bei allem Respekt – nicht Weltspitze, wenn man sich den Kampfrekord anschaut und sieht, gegen wen er geboxt hat.
Das heißt: Sie sind bereit für Opetaia und nehmen die Herausforderung an?
Auf jeden Fall. Ich habe auch direkt gesagt, als ich seine Nachricht bekommen habe: Let's go, let's go!
"Ich sollte mir jetzt auch mal das verdienen, was ich mir erarbeitet habe"
Sie gelten als unbequemer "Stinker", als guter Konterboxer – glauben Sie, dass Sie damit stilistisch gut aufgestellt sind, um Opetaia zu schlagen?
Ich denke, ich kann mich im Ring sehr gut anpassen und auf ihn und seinen Stil einstellen. Ich bin sicher, ich werde einen Weg finden, ihn auch zu schlagen. Bis auf die zwei Badou-Jack-Kämpfe hatte ich eigentlich nur technisch saubere Kämpfe. Nur mit ihm hat das irgendwie nicht so hingehauen (lacht).
Mit meinem Coach Pedro Diaz werde ich schon einen Weg finden. Opetaia hat jetzt schon öfter gezeigt, wo er offen ist, woran er arbeiten muss. Aber er ist ein hungriger Typ und als Weltmeister natürlich kein Park-Spaziergang. Um zu wissen, wer die Nummer 1 im Cruisergewicht ist, müssen wir uns alle messen und schauen, wer dann am Ende oben steht.
Ist das auch Ihr ultimatives Karriereziel – erst Opetaia, dann Ramirez und alle WM-Gürtel gewinnen?
Das spielt eigentlich keine große Rolle. Ich würde mich da nach der Börse richten, welcher Kampf lukrativer und schneller zu machen ist.
Wenn man oben ist, kommen immer wieder viele negative Leute an, die einen vom Thron runter holen wollen, die ganzen Kritiker und all die, die vom Boxen keine Ahnung haben. Ich hoffe, wir gehen dieses Mal direkt Richtung Titelvereinigung und weder der WBC noch Don King stellen mir ein Bein. Sonst gebe ich den Titel weg. Ich bin zum zweiten Mal Weltmeister geworden, muss keinem mehr was beweisen. Der WBC hat von den Verbänden die größte Geschichte, den Titel wollte ich haben. Mich interessieren der IBF- oder die anderen Gürtel nicht so, mich interessieren die Börsen jetzt viel mehr.
Man will auch etwas haben, bevor man den Sport verlässt. Ich habe echt viel Zeit und meine Gesundheit, auch Geld in diesen Sport investiert. Ich finde, ich sollte mir jetzt auch mal das verdienen, was ich mir erarbeitet habe.
Mit Noel Mikaelian sprach Martin Armbruster
